Chalkidiki. Die griechische Halbinsel Chalkidiki sieht aus wie eine unvollständige Hand. Einer ihrer Finger lohnt sich für Urlauber besonders.

Kassandra? In der griechischen My­thologie war das doch diese Dame, die hellsehen konnte, der aber niemand glaubte. Sie erkannte den Trick, als ­griechische Belagerer der Stadt Troja das riesige Holzpferd mit darin versteckten Soldaten unterjubelten und warnte die Einwohner davor. Doch keiner hörte auf Kassandra, weshalb Troja erobert wurde. Ob dieser Fluch bis ­heute fortwirkt – bei Kassandra, Chalkidikis’ erstem Landfinger?

„Fahr nicht hin, sondern lieber gleich nach Sithonia, auf den zweiten Finger“, hatten die Leute im nahen Thessaloniki gesagt. Aber wir wollten ja nicht hören. Und kurvten also durch Kassandra, ­diesen gut 50 Kilometer langen und meist zehn Kilometer breiten Streifen, auf Straßen mit leer stehenden Autohäusern und Supermärkten, an der ­Ost­küste vorbei an bis zu zwölfstöckigen All-inclusive-Hotelkästen und schon mal erdbebenartig wummernden Discomeilen mit Bowlingcenter und Kartbahn: Ibiza auf Griechisch. Bis auf das wirklich schön erhaltene Örtchen Afitos mit seinen Natursteinhäusern sind ­Kassandras Dörfer zumeist wenig einladende Markisenausstellungen mit verpollerten Promenaden und Gyros/Pommes als Tagesgericht.

Die Landhand badet in der türkisblauen Ägäis

Also fix weiter nach Sithonia. Am Wegesrand stehen im Gebüsch immer wieder griechisch-orthodoxe Kirchen in Hydrantengröße. Nur eine Kerze und ein kleines Bild passen hinein. „Diese ‚Eklisakias‘ stellen die Menschen ent­weder aus reiner Dankbarkeit neben ihren Grundstückseinfahrten auf oder um am Unfallort eines Verkehrstoten zu gedenken“, sagt Stratos Nikitas.

Frauen und Kinder verboten: Das heilige Kloster Vatopaidiou befindet sich auf Athos.
Frauen und Kinder verboten: Das heilige Kloster Vatopaidiou befindet sich auf Athos. © Getty Images/Moment RF | PHOTO BY DIMITRIOS TILIS

Der sonnenbebrillte Tarnanzugträger kennt auf Chalkidiki jeden Quadrat­meter, denn er fährt seit gut 30 Jahren täglich viele davon ab, bei seinen Jeep-Safaris. Heute will er seinen Gästen die schönsten Seiten Sithonias zeigen und brettert gegenüber dem Hotel über einen Schotterweg in den Wald. Der Weg mündet auf der nächsten Anhöhe in ein kilometerlanges Netz autobahnbreiter Sandpisten. „Feuerschneisen“, sagt Stratos – noch bevor seine Tourteilnehmer fragen können: „Kassan­dras Pinienwälder sind 2006 fast komplett abgebrannt, mit den Schneisen wollen wir’s auf Sithonia verhindern.“ Und mit einer ständigen Brandwache in dem eigens errichteten Turm auf gut 800 Metern Höhe. Stratos präsentiert ihn stolz als besten 360-Grad-Ausblick über Sithonia, Kassandra und Chalkidikis öst­lichen Finger namens Athos. Was für eine Traumlage für diese Landhand, dauerbadend in der türkisblauen Ägäis mit wolkenlosem Himmel in griechischem Flaggenblau obendrüber.

Parthenónas, ein winziges Bergdorf mit drei Tavernen

Knallrote Mohnblumen und gelbe Margeriten im Frühjahr, Kastanien und Walnussbäume, Steineichen, Wildbirnen und sogenannte Erdbeerbäume mit essbaren, aber nicht besonders aroma­tischen Früchten – Sithonias Landschaft ist wesentlich vielseitiger als ­Kassandras und gesäumt von Tausenden, in der Sonne strahlenden, farbigen Holzkisten am Wegesrand: Bienen­stöcke, von Profi- und Hobbyimkern im Wald aufgestellt. „Achtung, die Viecher sind angriffslustig“, warnt Stratos alle Nahlinsenfotografen seiner Gruppe. Nach seiner für Bandscheiben durchaus fordernden Waldfahrt erreichen wir Parthenónas, ein winziges Bergdorf mit gerade mal drei Tavernen. Eine davon gehört ­Pavlas („Paul“) Karapapas und seiner Frau – 1977 die ersten Rückkehrer, nachdem das Dorf fast ein Jahrzehnt völlig verlassen war, weil seine Bewohner statt in Ackerfurchen lieber in den damals boomenden Touristenzentren arbeiten wollten.

Inzwischen jedoch ist Pauls Taverna Pathenónas bereits zu einem Ausflugslokal mit ­Busparkplatz mutiert, weshalb Stratos es vorzieht, zwei Serpentinen weiter unten einzukehren – bei Orei­ades, wo die Wirtin uns ­Tsipouro auf Eis serviert, einst der griechische Arme-Leute-Grappa, heute auf Chalkidiki der populäre „Alle-Leute-Grappa“: Lakritz on the rocks – echt lecker!

Sithonias Küstenstraße führt zu vielen ruhigen Buchten

An der einmal um Chalkidikis Mittel­finger herumführenden Küstenstraße weisen alle paar Kilometer verwitterte, rot-weiße Schilder in Richtung Meer. Wer ihnen folgt, landet in wunderbar verschlafenen kleinen Orten wie Elia oder Toroni, durch die sich Dorfstraßen schlängeln und nach ein paar Häusern am stellenweise kilometerlangen Strand landen oder in schwer erreichbaren ­Sichelbuchten, die man in der Nebensaison schon mal für sich alleine hat. Hotelkästen der Marke „Urlauberschließfach“ gibt’s auf Sithonia nicht, mal abgesehen von Porto Carras, dem verunglückten Versuch des griechischen Reeders Jiannis Carras, in den 70er-Jahren an der Westküste ein Bonsai-Monte-Carlo mit Jachthafen und Ca­sino hinzusetzen.

Viel cooler, wenn auch nur im Sommer geöffnet: Sithonias Beach-Bars – zusammengezimmert oft aus ein paar Brettern unter Pinien oder eingebaut in rostigen VW-Bullis, manchmal aber auch mit bunten Restauranttischen im Sand wie in Kalamitsi. Hier fläzen sich schon mal Menschen mit schütterem grauen Haar, sonnengegerbter Haut und lila Latzhose. Es gibt sie also tatsächlich noch, unsere Flower-Power-Griechenland-Aussteiger von einst.

Eine riesige Schildkröte entpuppt sich als Insel

An der Südspitze Sithonias zieht sich die Rundstraße von der Küste zurück und weit nach oben ins Hügelland. Die Olivenbäume wirken aus der Ferne fast wie Brokkolibüschel am Hang. Ziegenherden trotten in Zeitlupe über die Landstraße, und der Blick von der Taverna Panorama hinunter könnte auch der in einen norwegischen Fjord sein. Nach so viel Beinahe-Fata-Morgana traut man kurz vor Sithonias größter Stadt Neos Marmaras seinen Augen wirklich nicht mehr: Nanu, eine XXL-Schildkröte im Meer?

Die Insel Kelifos ähnelt vom Ufer aus gesehen wirklich einer Panzerechse, heißt bei Einheimischen folgerichtig „Chelona“ (Schildkröte) und ist so was wie ein Sinnbild Sithonias: Chalkidikis’ Mittelfinger verändert sich ebenso wenig wie die Schildkröte, und genauso wie sie können Gäste hier täglich in der Sonne und an glasklarem Wasser dösen.

Auf dem dritten Finger, Athos, leben Mönche in Großklöstern

Athos, der dritte Finger, trägt quasi einen Dauerverband, und zwar um die vorderen beiden Gelenke. An sie kommt man kaum ran, dort ist Athos eine Mönchsrepublik. Mit Grenzzaun, Einreiseverbot für Frauen, Visapflicht und Einlass nur für Männer ab 18 Jahren.

Gut für die Anbieter von Boots­touren aus dem grenznahen Fischerort ­Ouranoupoli: Ihre Schiffe sind oft ausgebucht, denn etwas näher kommen möchten viele Chalkidiki-Besucher diesem merkwürdigen Reich schwarzer Kuttenträger schon. 500 Meter, dichter dürfen die Kapitäne nicht ans Ufer ran.

Durch Ferngläser und Teleobjektive sieht man nicht viel mehr als zumeist wuchtige, scheinbar an die Felsen geklebte Großklöster, von denen einige Harry Potters Zauberschule Hogwarts ähneln. Gut 2200 Mönche leben dort im Schatten des 2033 Meter hohen Berges Athos, angeblich inmitten zahlloser hochheiliger Reliquien. Ein Stück vom Kreuz Jesu etwa und ein Fetzen seines Leichentuchs.

„Wenn deine Frau dich verlassen hat, fahr nach Athos“

Die Mönche arbeiten täglich acht Stunden (zum Beispiel im Weinberg), beten acht Stunden und schlafen acht Stunden, erzählt die Tourguide-Stimme etwas zu andächtig aus dem Bordlautsprecher. Nein, weltferne Eremiten sind die Mönche nicht mehr. Mit Handy am Ohr schlendern einige durch Oura­noupolis, organisieren ihre weltweiten Handels – und Politikbeziehungen.

Doch der Mythos Athos muss gepflegt werden – schon allein, damit Chalkidikis freundlich-verschmitzte ­Bewohner ihren Gästen weiter ihren Merkspruch mit auf den Heimweg geben können: „Wenn du eine Frau suchst, fahr nach Kassandra. Wenn du eine Frau hast, fahr nach Sithonia. Und wenn deine Frau dich verlassen hat, fahr nach Athos.“