Helgoland. Auf Helgoland ist die Architektur der 1950er-Jahre so gut erhalten wie nirgendwo sonst im Land. Der Tourismus macht sich das zunutze.

Wer sich mit dem Boot nach Helgoland aufmacht, begibt sich auch auf eine Zeitreise. Der Neuankömmling merkt es gleich nach dem Anlegen, wenn er die Kurpromenade entlangspaziert.

Eigentümlich schlicht und etwas bieder wirken einheitlich gestaltete Hotelfassaden, auf denen Namen wie Seeblick oder Hanseat stehen, und antiquiert wirkende Tafeln anzeigen, ob Zimmer „frei“ oder „belegt“ sind. Helgoland ist so etwas wie Deutschlands einziges Freiluftmuseum für die Architektur der 1950er- und 60er-Jahre – fast jedes Haus auf der Insel steht unter Denkmalschutz.

„Jahrzehntelang war das ein absoluter Hemmschuh für die touristische Entwicklung“, sagt Detlev Rickmers, dem auf der Insel sieben Hotels und einige Apartmenthäuser ­gehören. Doch jetzt gebe es eine Trendwende, „die Architektur wird für uns ein Alleinstellungsmerkmal“.

Erste Gäste kämen nicht trotz, sondern gerade wegen des besonderen Ortsbildes. Erhebungen oder Statistiken dazu gibt es bisher nicht. Sicher ist aber, dass seit einigen Jahren immer mehr Gäste auf das Eiland kommen, das sich „Deutschlands einzige Hochseeinsel“ nennt.

Helgoland war Übungsziel für Bomberpiloten

Ein frischer Nordseewind weht, und die Sonne scheint, als wir Max Mailänder an der Kurpromenade treffen. Für Touristen bietet er regelmäßig Führungen zur Baugeschichte an. Aus seiner Tasche holt er einige Schwarz-Weiß-Fotos, die eine Mondlandschaft mit Kratern zeigen – es ist Helgoland nach dem „Big Bang“, wie er sagt. Damals, am 18. April 1947, sprengte die britische Armee das unterirdische Bunkersystem der Insel in die Luft.

Es war die größte nichtnukleare Sprengung aller Zeiten. In den Jahren darauf war Helgoland Übungsziel für die Bomberpiloten der Royal Air Force. 1952 kam die Insel an die Bundesrepublik zurück, die sich an den Wiederaufbau der komplett zerstörten Insel machte. „Es war die Chance, alles von Grund auf neu zu machen“, sagt Mailänder. Ein symbolträchtiges Vorzeigeprojekt für die Regierung Adenauer.

Eine Kommission unter der Leitung von Otto Bartning plante die Neubebauung – er war Präsident des Bundes Deutscher Architekten und hatte 1918 mit Walter Gropius die Ideen des Bauhauses formuliert. „Genau diese Ideen lassen sich heute auf Helgoland besichtigen“, sagt Max Mailänder. Er führt uns zur Bremer Straße, die ein Stück abseits der Touristenströme liegt. Die sogenannten Versuchshäuser stehen hier, betont funktional gestaltete, schlichte Rotklinker-Häuser mit asymmetrischen Giebeln.

Der Hamburger Architekt Georg Wellhausen konzipierte sie für die ersten Helgoländer, die auf die Insel zurückkehrten. „Achten Sie auf die Dachschrägen“, sagt Mailänder. „Die haben genau 32 Grad.“ Der Sinn: In alle Zimmer der dahinterliegenden Häuser sollte die ausreichende Dosis Tageslicht fallen, der Philosophie des Bauhauses folgend. Die Helgoländer hatten bei der Gestaltung ihrer Häuser wenig mitzureden.

Ältestes Gebäude der Insel ist der Leuchtturm

Wir gehen weiter in die Friesenstraße, hier stehen die Versuchshäuser der zweiten Generation, deren Gestaltung – nach heftigen Protesten – schon etwas konventioneller ausfiel. Dem Zufall überlassen wurde aber auch hier nichts. Mailänder zeigt das Bild einer Farbpalette, hält es an eine taubenblaue Fas­sade.

Der Blick auf einen Teil der Strandpromenade auf Helgoland.
Der Blick auf einen Teil der Strandpromenade auf Helgoland. © Getty Images/imageBROKER RM | Thomas Robbin

„Diese 14 Farbtöne, das ist die Helgo­länder Palette. In diesen Farben sind alle ­Häuserfassaden auf der Insel gestaltet“, erklärt Mailänder. Der Hamburger Künstler Johannes Ufer hatte das Farbspektrum entwickelt, eher zarte Töne für das Oberland und kräftige Töne für das Unterland vorgesehen. Ein Resultat sind die bunten „Hummerbuden“ im Hafen, heute Wahrzeichen der Insel.

Mailänder, Jahrgang 1961 und auf der Insel aufgewachsen, kann viele Anekdoten ­erzählen – von seiner Großmutter, die als Kriegswitwe mit fünf Kindern in einem dieser Häuser lebte. Wie sich die Familien früher nur mit Meerwasser wuschen, das bis in die 70er-Jahre aus den Wasserhähnen kam. Wir fahren mit dem Fahrstuhl – auch der unter Denkmalschutz – ins Oberland und nehmen den Spazierweg, der zum Lummenfelsen führt.

Halt machen wir aber am Leuchtturm, dem „ältesten Gebäude der Insel“, wie Mailänder sagt. Denn in Wahrheit sei es ein Flakbunker aus dem Zweiten Weltkrieg, der den „Big Bang“ überstand und später umfunktioniert wurde.

Die Hausdächer bilden ein Gesamtkunstwerk

Wir gehen in ein Wohngebiet. „Hier, alles Reihenhäuser. Und, verglichen mit einer Stadt wie Hamburg, alle quasi gleich groß. Keine Schlösser, keine Mietskasernen“, sagt Mailänder. Auch darin sieht er den „Geist der frühen Bundesrepublik“. Den Architekten habe eine gewisse soziale Gleichheit vorgeschwebt. Im Jahr 1993 wurde die Bebauung unter Denk­malschutz gestellt.

Die Insel sei die „Blaue Mauritius der 50er-Jahre“, sagte der damalige Landeskonservator von Schleswig-Holstein, Johannes Habich. Helgoländer hätten ein gespaltenes Verhältnis dazu, wie Max Mailänder sagt. „Die Häuser sind zwar schön, doch viele stört eben, dass sie nichts verändern dürfen.“ Oft seien die Gebäude und die Zimmer auch zu klein, „deshalb haben manche die Häuser komplett entkernt“.

Seinen Gast führt er nun noch zu einem Aussichtspunkt, von dem aus das gesamte Unterland zu überblicken ist. Mailänder zeigt auf die Hausdächer, die – von oben betrachtet – eine Art Gesamtkunstwerk bilden. „Sehen Sie? Wie Nordseewellen“, sagt er. Und es schwingt Stolz in seiner Stimme mit.

Ein Hotel besticht durch Retro-Chic mit Käse-Igel

Ein Haus, das den Mythos der Aufbau­jahre gezielt nutzt, ist das Hotel Helgoländer Klassik. Hier sind auch die Innenräume ganz im Stil der 50er und 60er gestaltet, im Erdgeschoss gibt es eine Sixties Lounge mit Nierentischen und Tütenlampen. „Die Möbel haben wir zum Teil anfertigen lassen“, sagt Besitzer Detlev Rickmers. Im Speisesaal hängen Kinoplakate der 50er-Jahre, in den Zimmern stehen „Kaffeezubereiter“ wie zu Zeiten des Wirtschaftswunders.

Nicht zuletzt ist da die Speisekarte, auf der tatsächlich ein Käse-Igel zu finden sind. Die Einrichtung im Retro-Chic bekam das Hotel im Jahr 2010. Detlev Rickmers: „Das hat am Anfang sehr polarisiert. Besonders ­ältere Gäste haben das harsch bewertet.“ Jüngere hingegen seien gleich begeistert gewesen. Mittlerweile komme der Großteil der Gäste wegen der Einrichtung.

Die Aura der Nachkriegsjahre können Übernachtungsgäste auch anderswo spüren – zum Beispiel in der Jugendherberge. Sie entstand in den späten 50er-Jahren, und heute stehen Teile der Inneneinrichtung – wie eine Wand mit hölzernen Spindschränken – unter Denkmalschutz.

Das Felsen-Wahrzeichen Lange Anna.
Das Felsen-Wahrzeichen Lange Anna. © Getty Images | Frans Sellies

Und dann ist da noch die Düne, jene vorgelagerte Mini-Insel mit eigentlich nichts weiter als zwei Stränden, zu der Badegäste mit einem kleinen Boot übersetzen. Hier begann nach dem Krieg der Tourismus zunächst mit Zelten – schicke Restaurants und sonstige ­Attraktionen sucht man auch heute noch vergebens. Den Campingplatz gibt es nach wie vor – und hölzerne, mehrere Jahrzehnte alte Bungalows, die sich hinter die Sanddünen kauern.

„Em­press of India“ soll ein neues Hotel heißen

Diese spartanischen Unterkünfte ohne Wasser- und Stromanschluss können heute gemietet werden, sie werden allerdings nach und nach abgerissen. Dafür ist seit 2006 ein neues „Bungalowdorf“ auf der Düne entstanden, dessen bunte Holzhäuser den heutigen Standards in puncto Größe und Ausstattung entsprechen. Entschleunigung, Urlaub, wie er vielleicht früher einmal war – wer das sucht, der findet es hier.

Tourismus im Zeichen der 50er-Jahre – liegt hier die Zukunft für die Insel? Martin ­Linne, der Geschäftsführer der Gesellschaft für Tourismusforschung, sieht darin einiges Potenzial: „Wenn es gelingt, das Thema wirklich aus­zubauen, dann lässt es sich auch verstärkt als Reiseanlass entwickeln.“ Er sagt auch: „Für mich persönlich hat dieses Architektur-En­semble den Rang eines Unesco-Weltkulturerbes.“

Detlev Rickmers will in Zukunft weiter auf diese Karte setzen, betont jedoch auch, dass die Insel noch einige weitere Kapitel ihrer ­bewegten Geschichte zu erzählen hat. So wird sich ein Hotel, dessen Eröffnung für 2019 geplant ist, der Zeit widmen, als Helgoland während des 19. Jahrhunderts Teil des Britischen Empire war.

Der Name des Hauses soll „Em­press of India“ lauten. Prunk und Pracht wird man aber nur in den Innenräumen finden können – die Außenfassade steht selbstverständlich unter Denkmalschutz und erzählt deshalb für immer jene Geschichte, wie alles wieder begann – damals, nach dem „Big Bang.“