Oberstorf. Majestätische Gipfel, blühende Bergwiesen und Muskelkater: Von zwei Flachland-Tirolern, die auszogen, die Alpen zu überqueren.

Als wir im Garten des Meraner Hotels unter dem Applaus unserer Mitwanderer die Urkunden erhalten, die meine Freundin Marion und mich als Alpenüberquerer ausweisen, sollten wir eigentlich stolz auf uns sein. Doch wir werden unsere Urkunden nicht einrahmen lassen. Denn was wir fortan über unsere Alpenüberquerung erzählen wollen, wird keine Heldengeschichte sein.

• Ein Jahr zuvor
Die Geschichte beginnt in einem Spezialkaufhaus für Globetrotter und all jene, die es werden wollen. Die sich, so wie wir, vom Wanderboom haben anstecken lassen. Doch flach kann jeder: Wir aber wollen auf einem Teilstück des Europäischen Fernwanderweges E 5 in sechs Tagesetappen die Alpen von Oberstdorf nach Meran überqueren.

Wenn man sich die Reportage der Journalistin und Moderatorin Tamina Kallert, „Tamina in den Alpen“, über ihre Bergwanderung anschaut, handelt es sich dabei um ein vergnügliches, teilweise etwas anstrengenderes Lustwandeln, das selbst kleine Kinder und noch kleinere Hunde relativ mühelos bewältigen können. Man benötige dazu lediglich „ein wenig Bergerfahrung“ und eine „mittlere Kondition“.

Das sind zwei äußerst dehnbare Begriffe, aber das haben wir damals noch nicht gewusst.

So geben wir für Bergschuhe, Funktionskleidung aus Merinowolle, Tagesrucksäcke, Bergstöcke, Regenkleidung und vor allem für Blasenpflaster ein kleines Vermögen aus.

Wir haben uns für die Komfort-Tour entschieden, da wir auf das archaische Vergnügen verzichten wollen, gemeinsam mit Dutzenden anderen Bergwanderern in Mehrbettzimmern oder Gemeinschaftsschlafsälen auf den Berghütten zu nächtigen. Und unser Gepäck wird von Unterkunft zu Unterkunft transportiert.

• Der erste Tag
Am Oberstdorfer Bahnhof lernen wir unsere Mitwanderer sowie den Mann kennen, dem wir die kommenden sechs Tage hinterherlaufen sollen: Tommy stammt aus dem Kleinwalsertal, ist 60 Jahre alt, etwa 1,70 Meter groß, braun gebrannt, hat stramme Waden und wirkt sehr erfahren. Einst hat er das Zimmererhandwerk gelernt, aber er ist seit über drei Jahrzehnten nur noch als Skilehrer und Bergführer tätig.

Abschätzende Blicke fliegen hin und her, auch ein paar Frotzeleien, und im Inneren denken alle dasselbe: Was wird uns erwarten? Wie sind wohl die anderen drauf? Da jedoch alle die Reportage mit der stets fröhlichen Tamina Kallert gesehen haben, herrscht in der Gruppe die übereinstimmende Meinung, dass es so schlimm wohl nicht werden kann.

Die Teilnehmer sind alle zwischen 40 und knapp über 60 Jahre alt. Da sind Sybille, ­Silke, Solveigh und das Ehepaar Silvia und Christian, fünf Frohnaturen aus dem Rheinland; Karin und Christoph aus dem Schwarzwald, Johanna und Pia, zwei ­allein reisende Grundschullehrerinnen, sowie der Elsässer Michel.

Allerdings sind die anderen im Gegensatz zu uns ziemliche Sportskanonen und haben Marscherfahrung. Michel etwa marschiert seit 2008 in Etappen um Frankreich herum, Pia ist bereits im Himalaya getrekkt und hat den echten Jakobsweg hinuntergespult, Silke absolviert dreimal pro Woche ein Zirkeltraining mit einem Personal Trainer, fechtet regelmäßig und wandert an ihren sportfreien Tagen durch die Eifel.

Aber, hey, wir sind ein knappes Jahr lang mehr Rad gefahren als sonst, haben respek­tabel abgenommen; unsere Bergstiefel sind eingelaufen, und unsere Generalprobe – eine dreitägige Harz-Wanderung über insgesamt 56 Kilometer einen Monat zuvor – hat unser Selbstbewusstsein gestärkt.

So träumen wir auch nach der „gemütlichen Eingehtour“ über elf Kilometer in die Birgsau im Stillachtal – nur von einem atem(be)raubenden 300-Höhenmeter-Anstieg unterbrochen – vom Gipfelstürmen, obwohl Tommy uns am Abend ­erstaunlicherweise kritisch mustert, als er erklärt, dass sich auf der zweiten Tagesetappe für gewöhnlich die Spreu vom Weizen trennt.

15 Kilometer mit jeweils 1000 Höhenmetern rauf wie runter lägen vor uns, „und wir wissen alle“, sagt Tommy mit einem strengen Seitenblick auf uns, „dass der Abstieg anstrengender wird als der Aufstieg. Viel anstrengender“.

Nein, wir wissen das nicht, und vermutlich sehen wir jetzt auch so aus, aber dann sagt Silke, „Ach was, Leute: Steil ist geil!“ Die folgende Heiterkeitseruption befreit uns gnädig aus unserer Verlegenheit.

• Der zweite Tag
Dichte Nadelwälder, satte Almen, auf denen Kühe mit Halsglocken läuten, majestätische Gipfel um uns herum, zum Teil mit Schnee ­gepudert. Wilde Bergkräuter und -blumen in allen Farben. Aber da ist auch dieser schmale Pfad, der unserem Empfinden nach beinahe senkrecht hinaufführt. Dazu die Sonne, die aus wolkenlosem Himmel brutal auf den Schädel knallt.

In 1700 Meter Höhe ist es noch 26 Grad warm, und wir schwitzen wie in den Tropen. Das Terrain ist schwierig, Felsen, Kies, Geröll, Wasser, Schlamm und Gras wechseln sich ab. Wir müssen jeden Tritt ganz bewusst setzen und mit unseren Stöcken absichern, sonst würden wir früher oder später garantiert auf der Nase landen. Denn die Kraft, die schwindet rapide. Jedenfalls bei uns.

Tommy verdonnert Marion und mich dazu, hinter ihm zu bleiben und sein Tempo konsequent mitzugehen. Er stapft mit regelmäßigen Schritten voraus, wie eine Nähmaschine in Zeitlupe, Tritt für Tritt. „Viele gehen es zu schnell an. Unten mag das noch funktionieren, aber wenn dich zwischen 1000 und 2000 Metern das Tempo zerbröselt, erholst du dich am Berg nicht mehr“, sagt er.

Wir nicken kraftlos. Den anderen geht es entschieden besser. Sie schnaufen zwar auch, aber nur ein bisschen, und wir ahnen, dass sie gerne etwas schneller wandern würden, doch niemand murrt.

Wie in Trance erreichen wir nach dreieinhalb Stunden die Kemptner Hütte auf knapp 1900 Meter Höhe, und plötzlich geschieht ­etwas Wunderbares: Denn schon mit dem ersten Schluck Weizen alkoholfrei und dem ersten Bissen Kaiserschmarrn fallen alle Mühsal und Qualen wie ein Umhang von uns ab.

„Nennt mich Hannibal!“, möchte ich ausrufen, wir fühlen uns als Helden und begreifen erstmals, warum wir uns auf dieses Abenteuer eingelassen haben: weil sie halt so schön sind, diese verdammten Alpen.

Eine gute Stunde später, nach einem weiteren 200-Höhenmeter-Anstieg übers Mädelejoch und den nachfolgenden Abstieg hinunter ins österreichische Holzgau, fallen wir schon wieder in Trance. Was gut ist, da wir so nicht spüren, dass sich an unseren Füßen trotz besten Schuhwerks und Wandersocken Blasen gebildet haben.

Denn was wir hier machen, ist eben keine Bergwanderung. „Es ist eine alpine Wanderung, das ist der Unterschied“, sagt Tommy, als wir gegen 20 Uhr im Gasthof ­Bären als Letzte zum gemeinsamen Abendessen humpeln, „und das wird manchmal leider ein bisschen zu leichtfertig verkauft.“ Er ärgert sich über die Fernseh-Reportage: „So etwas Deppertes habe ich noch nicht gesehen. Vollkommen an der Wirklichkeit vorbei. Ganz übel, dass da Hunde und Kinder ins Bild genommen wurden. Da wird der Eindruck erweckt, es handele sich um einen Spaziergang.“

• Der dritte Tag
Weil das Aufstehen gut drei Minuten dauert und unsere Stiefel wegen unserer Blasen eine Nummer zu klein geworden sind, fällen Marion und ich eine Entscheidung: Wir werden die Spreu sein. Wir werden die Statistik bestätigen, nach der bei jeder Tour durchschnittlich 1,5 Wanderer aufgeben.

Denn als wir un­sere unteren Gliedmaßen befragen, ob die sich einen vierstündigen Aufstieg auf 2400 Meter Höhe bei 28 Grad im Schatten und einen ebenso langen Abstieg vorstellen können, sagen die Nein. Unsere Grundkondition reicht einfach nicht.

Der Bärenwirt, ein ehemaliger Bergführer, spendet Trost: „Für euch ist’s heuer zu steil, zu hoch, zu weit und zu heiß. Richtige Entscheidung, Bua!“ Während die Gruppe also ohne uns die nächste Etappe in Angriff nimmt, schlendern wir langsam hinauf zur längsten Hängebrücke Europas, schaudern beim Überqueren und fahren dann bequem mit dem Gepäcktaxi ins Pitztal.

• Vierter und fünfter Tag
Wir lassen die andern wandern und erfreuen uns im Tal an den Annehmlichkeiten der ­österreichischen Gastlichkeit. Wir stolpern auch ein bisschen in der Gegend herum, ­lächerliche zehn Kilometer gegen unser schlechtes Gewissen, aber letztlich freuen wir uns vor allem über die Seilbahnen. Auch so kann man die Bergwelt genießen, selbst wenn wir abends neidisch miterleben, wie die Harten (Pias Fersen sind blutig gescheuert) ihre Eindrücke von der Tagesetappe erzählen und ihre Handyfotos herumgehen lassen.

Ich bin am fünften Tag dann noch einmal eine halbe Tagesetappe mitgewandert, vom Timmelsjoch (2509 Meter) zur Schönauer Alp hinunter auf 1781 Meter. Ein Abstieg der schweren Kategorie. Danach fühle ich mich wieder fit, aber Tommy schüttelt den Kopf: Für die abschließende 17 Kilometer lange ­Königsetappe (Aufstieg 1100 Meter, Abstieg 1400 Meter) nach Meran will er kein Risiko eingehen. Marion winkt sowieso ab. Sie kommt mit ihrem Muskelkater kaum mehr die Treppen hinunter. Wir haben also Zeit, uns Meran anzusehen.

• Sechster Tag, abends
Beschämt blicken wir auf unsere Urkunden, während die Gruppe mit klingenden Gläsern beschließt, im nächsten Jahr den Meraner Höhenweg gemeinsam „zu machen“. Mit Gepäck, noch höher, noch steiler, noch geiler. „Ihr kommt aber mit?“, fragt Silvia. Es hört sich ­jedoch nicht nach einer Frage an. Marion und ich überlegen nicht lange und nicken. Endlich mal wieder eine echte Herausforderung, und das beste Training für eine Bergwanderung ist schließlich eine Bergwanderung.

• Tipps & Informationen

Voraussetzungen Die beste Zeit für alpine Wanderungen sind die Monate Juni bis September. Das A und O sind eine vernünftige Ausrüstung und eine gute Kondition. Wer es spartanisch mag, wählt eine Rucksacktour mit Hüttenübernachtung. Die Hotels auf der Komfort-Tour mit Gepäcktransport und Halbpension sind durchweg hervorragend bis exzellent. Wer seinen Bergführer (empfohlen!) beim Wandern überholt, muss abends eine Runde ausgeben.

Geführte Wanderungen bieten z. B. Oase AlpinCenter, oder Alpinschule Oberstdorf