Heron Island. Australiens Heron Island ist nicht nur Schutzgebiet einer einzigartigen Vogelpopulation. Die Insel macht auch aus Urlaubern Helfer.
Am frühen Abend entsteht am Strand Unruhe. Menschen gestikulieren, schütteln Schirme und schreien Silbermöwen an. Wo tags kaum jemand unterwegs war, weil Sturm und Regen weißen Sand und türkisfarbene Gewässer in eine an die Nordsee erinnernde Sinfonie aus Grautönen verwandelten, starren Urlauber nun abwechselnd in Wasserrinnen, die die Ebbe zurückgelassen hat, und zum Himmel.
Gegenstand der Aufregung sind einige Dutzend frisch geschlüpfte Schildkröten. Vermutlich hielten sie den bewölkten Himmel für abendliches Dämmerlicht. Unzeitig früh und dazu bei Niedrigwasser haben sich die Jungtiere auf den Weg ins jetzt noch weit entfernte Meer gemacht. Aus dem Wasser ragende Riffe versperren den Zugang, kein Mondlicht hilft bei der Orientierung.
Schildkröten sind leichte Beute für die Möwen
So wird der unter besten Bedingungen schwierige Weg der Meeresschildkröten zum Büfett für die Silbermöwen. Eine nach der anderen greifen die Vögel vom Strand und aus den Pfützen, obwohl Urlauber neben ihnen herlaufen, sie schreiend und Fäuste schüttelnd gegen die Möwen verteidigen und einige erst an die Biester verlieren, als sie das tiefe Wasser fast schon erreicht haben.
Eine Handvoll Schildkröten-Babys hat es schließlich ins Meer geschafft, den Rest haben die Vögel verschlungen. Natur muss man aushalten können; das ist eine der zentralen Botschaften, die Heron Island vermittelt. Die 30.000 Menschen, die jedes Jahr hierherkommen, sollen so wenig wie möglich ins Ökosystem eingreifen. Wenn zwischen Oktober und März auf Heron Grüne Meeresschildkröten und Karettschildkröten nisten und schlüpfen, ist das nicht immer leicht.
Heron Island – eine faszinierende Unterwasserwelt
80 Kilometer vom Festland entfernt liegt die Insel im südlichen Abschnitt des Great Barrier Reef. Die vor allem aus Vögeln und saisonal aus Schildkröten bestehende Fauna an Land und eine faszinierende Unterwasserwelt – 60 Prozent der im Great Barrier Reef vorkommenden Fischarten sind rund um Heron heimisch – lassen Nebensächlichkeiten wie den traumhaften Strand glatt vergessen. Je weiter man sich in Australien nach Süden bewegt, desto gemäßigter werden die Temperaturen; das gilt auch fürs Wasser.
So waren die Gewässer hier weniger von den schweren Korallenbleichen der Jahre 2016 und 2017 betroffen als die nördlichen Abschnitte des Riffs. Die Gäste erreichen die Insel von Gladstone aus per Wasserflugzeug oder mit dem „Heron Islander“, einem 30 Meter langen Boot, das eigens für „sanfte Fahrten in rauen Gewässern“ konzipiert wurde. So können die Passagiere an Bord lesen, während der „Islander“ aufs offene Meer steuert, wo bald klar wird, warum auf jedem Tisch Stapel von Spuckbeuteln liegen.
Das Great Barrier Reef ist in Gefahr
Auf Heron Island flötet und zirpt es überall
Wenn die neuen Gäste mit grünen Gesichtern an Land gehen, erwartet sie eine Geräuschkulisse aus Schreien und Pfiffen. Rund 200.000 Vögel leben im Südsommer auf der 300 mal 800 Meter großen Insel. 120.000 Weißkopf-Noddys und bis zu 30.000 Keilschwanz-Sturmtaucher kommen im Oktober zum Brüten nach Heron Island; Weißbauch-Seeadler, Riffreiher, Götzenlieste und Silbermöwen leben ganzjährig hier. Hinzu kommen Zugvögel aus der nördlichen Hemisphäre. Auf Bäumen, in der Luft, im Gebüsch und vor den Füßen: Überall flötet, zirpt und kreischt es.
Abends wird die Geräuschkulisse ohrenbetäubend, wenn die Sturmtaucher nach einem Tag des Fischens auf dem Meer mit einer Art Bruchlandung – ihre Augen eignen sich besser für die Wahrnehmung von Fischen im Wasser als für Landgänge im Dämmerlicht – auf die Insel zurückkehren und geisterhafte Rufe ausstoßen, mit denen sie ihre Paarbindungen bekräftigen. „Achten Sie darauf, wo Sie hintreten“, warnt Suzanne, eine der Natur-Guides des Resorts. „Sturmtaucher bauen ihre Nester am Boden. Es sind bis zu zwei Meter tiefe Löcher, wahre Knöchelbrecher.“
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Nichts darf hier verändert werden
Die Insel steht unter Schutz, nichts darf eingeschleppt, mitgenommen oder verändert werden, mahnt Suzanne, als sie einem Grüppchen von Gästen die insulare Vogelwelt näherbringt. Als Erstes zeigt sie zwei tote Vögel, die neben einem Baumstamm vor dem Restaurant verrotten. Die beiden Weißkopf-Noddys bleiben hier liegen, bis sie Teil der Erde sind. Suzanne erläutert die Symbiose, die dafür verantwortlich ist, dass nur ein paar Meter weiter ein anderer Noddy lebendig, aber unbeweglich am Boden sitzt.
„Dieser Vogel wird bald sterben“, erklärt sie. Denn die Pisonia-Bäume, die den Weißkopf-Noddy-Brutpaaren Blätter für den Nestbau bieten, töten zugleich viele von ihnen durch ihre mit einer Schleimschicht und Haken bedeckten Samen. Sie verkleben die Federn der Vögel und halten sie am Boden fest, bis die verhungern. Ihre Kadaver reichern den nährstoffarmen Sandboden an und nutzen somit dem Wald. Und weil der Mensch sich in nichts einmischen soll – einige Schildkröten-Retter gucken schuldbewusst drein –, dürfen weder tote Vögel am Wegrand entfernt noch verklebte Noddys befreit werden.
Geologe benannte Heron Island nach Reihern, die er angeblich sah
Menschliche Anteilnahme ist auf Heron ein relativ neues Phänomen. Als 1843 mit Captain Francis Price Blackwood der erste Europäer die Insel sah, betrachtete er sie mit mäßigem Interesse; ihm ging es darum, schiffbare Kanäle zwischen den Korallenbänken des Great Barrier Reef zu finden, das schon James Cook 1770 zur Verzweiflung getrieben hatte.
Der mitgereiste Geologe Joseph B. Jukes benannte die Insel nach den Reihern, die er in großer Zahl sah. Oder zu sehen glaubte, denn weder er noch Blackwood gingen an Land und identifizierten die Vögel zweifelsfrei als weiße Riffreiher, die im Englischen eher „egrets“ heißen als „herons“. Die grotesken Laute der Sturmtaucher hielten auch die Besatzungen anderer Schiffe davon ab, die Insel hinter den Korallenbänken erkunden zu wollen.
Die faszinierende Welt der Korallenriffe
Wrack der „HMCS Protector“ liegt noch heute vor Heron Island
Wie segensreich das war, zeigte sich 1925, als ein Mister Marsh die Insel betrat. Erfreut über die vielen Schildkröten, die zur Eiablage an Land kamen, baute er eine Abfüllanlage für Schildkrötensuppe. Zwei Jahre später waren die Tiere so rar geworden, dass sich das Geschäft nicht mehr rentierte. Cristian Poulson, der für Angler Riff-Touren organisierte, entschloss sich 1932, die marode Anlage in eines der ersten Resorts auf dem Great Barrier Reef zu verwandeln.
Er schleppte das Wrack der „HMCS Protector“, das er in Gladstone erworben hatte, als Wellenbrecher vor die Insel. Noch heute liegt es hier im Wasser. Poulsons Schicksal ist indessen ungewiss. In einer Novembernacht des Jahres 1947 ruderte er von einem vor der Insel liegenden Schiff zurück an Land, kam aber niemals auf Heron an.
In den 50er-Jahren ritt man noch auf Schildkröten
Im oberen Stockwerk der Bar zeigen Schwarz-Weiß-Fotos, wie sich Riff-Touristen in den 50er-Jahren die Zeit vertrieben: Eine Urlauberin in Shorts, Bluse und Sonnenhut reitet auf dem Panzer einer Schildkröte, eine andere posiert im Badeanzug auf einem Tier. „Aktivität der Vergangenheit; heute ist diese Praxis verboten“, vermerkt lakonisch ein Schild.
Zwar war die Insel seit 1943 Nationalpark, doch war dies keine Zeit, in der man viel über die Auswirkungen menschlichen Tuns auf die Natur nachdachte. Ein Kasten voller Muscheln im Informationszentrum war die Ausbeute eines Riff-Spaziergangs von Janet Clark im Juni 1953. Bei ihrem Besuch 40 Jahre später gab sie die Muscheln reumütig zurück.
Beim Schnorcheln Rochen und Riffhaie sehen
Heute bedeutet Luxus auf Heron Naturerlebnis. Zum Essen im Shearwater Restaurant, das aussieht wie ein Vogelkäfig, durch dessen Gitter die Vögel außen die speisenden Menschen innen betrachten, macht sich niemand schick. Die schmucklosen Zimmer einerseits und der Informationsimperativ andererseits – im Besucherzentrum, durch Vorträge und geführte Aktivitäten – zeigen die Prioritäten: Natur sehen, verstehen, schützen.
So gehen die Gäste schnorcheln und sehen gleich neben dem Bootsanleger Rochen und Riffhaie, Wasserschildkröten und Schwärme bunter Fische. Sie erkunden beim Bird Walk mit Suzanne die Vogelwelt und erforschen bei Ebbe die Miniatur-Wunder des Riffs.
Reef Walk zeigt Seegurken und Epaulettenhaie
Meeresbiologin Nicole MacLachlan verteilt Schuhe und Stöcke, die beim Reef Walk über den frei liegenden Meeresboden Halt geben sollen, und führt ihre Gruppe vom Strand in Richtung Riffkante. Immer schwieriger wird es, im erst knöchel- und dann knietiefen Wasser einen Weg um die Korallenbänke zu finden.
Nicole bleibt stehen, zeigt diverse Arten von Seegurken, hebt vorsichtig einen kleinen roten und einen großen knallblauen Seestern auf und deutet auf kleine, dunkel gesprenkelte Epaulettenhaie, die im flachen Wasser zurückgeblieben sind und erst mit der einlaufenden Flut wieder ins offene Meer gelangen.
Zwischendurch spricht sie von Haien, denen ihre besondere Liebe gilt und über die sie abends im Resort Vorträge hält, und über Plastik: 450 Jahre dauere es, bis eine Plastikflasche abgebaut sei, 600, bis eine verlorene Angelschnur verschwunden sei; acht Millionen Tonnen Plastik gelangten jedes Jahr ins Meer. Als ihr Grüppchen wieder Sand unter den Füßen hat, wissen die meisten, dass sie nie wieder eine Plastikflasche kaufen werden.
Was zwei Grad mehr für das Great Barrier Reef bedeuten
Zwischen Riffwanderung und Schnorchelausflug passt ein Besuch in der meeresbiologischen Station der University of Queensland. In großen Bottichen wird hier untersucht, wie ein Korallenriff auf die Erhöhung der Meerestemperatur und die Zufuhr von Kohlendioxid reagiert. In einem Becken misst das Wasser 26 Grad, in einem anderen ein Grad, im dritten zwei Grad mehr. Bleibt das Wasser über längere Zeit wärmer, kommt es zur Korallenbleiche; erhöht sich die Zufuhr von Kohlendioxid, werden die Korallen porös.
„Sie brechen dann schneller ab, als sie wachsen“, erklärt Lauren Bailey, die Leiterin der Station. „Wenn sich die Erderwärmung um die zwei Grad erhöht, die beim Pariser Klimaabkommen als Höchstgrenze festgelegt wurden, sind in 50 Jahren vermutlich noch zehn Prozent des Great Barrier Reef am Leben.“
Aber, so fügt Lauren hinzu: Sinke die Zufuhr von Treibhausgasen im Becken, wüchsen gebleichte Korallen nach – sofern ihre Struktur noch intakt sei. „Ich versuche, die Lage nicht zu negativ zu beschreiben. Sonst denken die Leute, sie könnten nichts ändern. Aber jeder kann etwas ändern, im Alltag und bei der nächsten Wahl.“
Abends laufen die Urlauber im Licht des aufgehenden Vollmonds bis zur Inselspitze. Scharf trifft sie der Wind von der Seeseite. Doch selbst die Dunkelheit birgt auf Heron Island Wunder: Ganz nahe am Ufer liegt eine Gruppe Riffmantas in der Strömung.
Tipps & Informationen
Anreise ab Berlin z. B. mit Eurowings und Singapore Airlines über Frankfurt und Singapur nach Brisbane. Von dort mit Virgin Australia oder Quantas weiter nach Gladstone. Der Bootstransfer von Gladstone nach Heron Island kostet 64 australische Dollar (etwa 42 Euro) pro Strecke; der „Heron Islander“ fährt täglich um 14 Uhr ab Gladstone (außer dienstags und donnerstags).
Übernachtung Das Resort auf dem Riff bietet Platz für 200 Gäste. Die Übernachtung mit Frühstück kostet im Turtle Room ab 330 australische Dollar (etwa 220 Euro), in einer Suite am Strand ab 572 australische Dollar (etwa 380 Euro). Ein „Turtle Package“ mit drei Übernachtungen, Frühstück, einem Schnorcheltrip und diversen Vorträgen über Schildkröten kostet ab 495 australische Dollar (etwa 330 Euro) pro Person im DZ.
Reef Walks, geführte Inselspaziergänge zu den Themen Fauna und Flora sowie Vorträge zur Natur unter und über Wasser sind im Übernachtungspreis inbegriffen. Geführte Schnorchelausflüge kosten 50 australische Dollar (etwa 33 Euro), Tauchgänge 75 australische Dollar (etwa 50 Euro). Näheres: www.heronisland.com
Reisezeit Zwischen Oktober und März kommen weibliche Schildkröten jeweils drei- bis fünfmal zur Eiablage an Land. Von Dezember bis Ende März schlüpfen die Jungtiere. Rund 4000 Schildkröten leben permanent rund um Heron Island, so dass man nicht nur beim Schnorcheln und Tauchen, sondern schon vom Strand aus häufig Schildkröten sieht. Zwischen Oktober und April erreicht auch die Vogelpopulation ihre höchste Zahl.
Auskunft: www.queensland.com
(Die Reise erfolgte mit Unterstützung durch Tourism Queensland.)