Detroit. Detroit war lange eine bankrotte Industriemetropole. Einige Fantasten glaubten an die Wiederauferstehung – und haben recht behalten.

New York, Miami, Los Angeles, San Francisco, New Orleans. Und Las Vegas natürlich. Ich hatte in meinem Leben schon ein paarmal das Glück, nach Nordamerika reisen zu dürfen, dorthin, wohin es die meisten USA-Reisenden zieht. Und nun lande ich nach einem Acht-Stunden-Flug in Detroit im US-Bundesstaat Michigan und stehe nach den Einreiseformalitäten gut drei Stunden später an der Riverfront, der ellenlangen neuen Uferpromenade am De­troit River und nur eines von vielen Projekten, mit denen Detroit sich zurzeit neu erfindet.

Aus Alt baue Neu, aus gar nichts baue auch Neu, aber baue in jedem Fall architektonisch ansprechend und nachhaltig. So säumen inzwischen Restaurants für jeden Geldbeutel, Shops und Hotels, Veranstaltungsflächen für Konzerte und Wohnhäuser das Ufer des Flusses, in dessen Mitte die Grenze zu Kanada verläuft.

Mehr als 300 Morde im Jahr

Die kanadische Großstadt am anderen Flussufer heißt Windsor, sie hat rund 280.000 Einwohner, doch neben ihrer Größe und ihrer bescheidenen Skyline ist der dritte und vermutlich wesentliche Unterschied zu Detroit, dass auf kanadischer Seite pro Jahr weniger als ein Dutzend Morde verzeichnet werden, in Detroit dagegen weit mehr als 300 – jedoch so gut wie ausnahmslos in den Vierteln, in die sich keine Touristen verirren.

Doch was will ich eigentlich hier, in der „Mordhauptstadt der USA“, dieser bankrotten Industriemetropole mit Brachflächen mitten in der Stadt, auf denen das Gras mannshoch wächst und die umrahmt sind von rußgeschwärzten, verfallenen Häusern, in denen niemand mehr wohnt, sowie einsturzgefährdeten Industriegebäuden, in denen niemand mehr arbeitet. Nur der Efeu klettert unermüdlich die Backsteinfassaden hoch und verleiht der Tristesse eine gewisse Romantik.

Durch die Stadt zieht sich ein Boulevard der Gegensätze

Das Detroiter Viertel Greektown.
Das Detroiter Viertel Greektown. © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Mark Bialek

Dabei war Detroit noch bis in die 50er-Jahre hinein mit mehr als zwei Millionen Einwohnern die viertgrößte Stadt des Landes. Vor allem die Autoindustrie – Ford, Chrysler, General Motors – lief als gut geölter Job-Motor. Doch aus der Erfolgsstory wurde ein Drama, als die japanischen und europäischen Mitbewerber, von den „großen drei“ mächtig unterschätzt, auf den US-Markt rollten. Spätestens mit der Ölkrise in den 70ern merkten dann auch die Amerikaner, dass ihre eigenen Autos den innovativen Modellen aus Übersee qualitativ unterlegen waren und zu viel Sprit verbrauchten.

Der Umsatzrückgang kos­tete die ersten zigtausend Jobs, im ­Laufe der nächsten Jahre gab es immer wieder Massenentlassungen, auch viele Zulieferbetriebe machten dicht oder wanderten ab, und die Rassenproblematik sorgte für eine Massenflucht der weißen Bewohner in die Vororte. Nach diesem „white flight“ blieb ein Innenstadt-Getto mit den typischen sozialen Problemen zurück. Zu diesem Zeitpunkt wohnten nur noch knapp 680.000 Menschen in der „Motor City“, etwa 80 Prozent von ihnen waren schwarz, und viel zu viele Menschen hatten keine Per­spektive mehr.

Das Auto rumpelt über die Schlaglöcher der Woodward Avenue, die insgesamt 27 Meilen lange Nord-Süd-Achse Detroits, in Richtung Innenstadt. Einst war sie das Aushängeschild des amerikanischen Traums, heute ist es ein breiter Boulevard der Gegensätze, über den der Filmemacher Michael Moore sagte, dort sehe es teilweise aus wie auf einem anderen Planeten. Damit meinte er die Schuttberge längst abgerissener Häuser entlang der Strecke, die noch immer nicht abgetragen sind. Kurz vorm Woodland-Friedhof kreuzt die Woodward dann die 8 Mile Road.

Die Detroiter haben es immer gewusst, dass ein Wunder passieren wird

Das ist die berühmte schnurgerade Straße, in der Wohlstand und Armut sich ebenfalls blockweise abwechseln und die seit dem gleichnamigen Film mit dem Rapper Eminem im Jahre 2002 Detroit erst ins Bewusstsein der Welt zurück­zurufen half. Übrigens stammen Iggy Pop und Madonna auch von hier und kämpften sich nach oben, und dann war da ja noch vor allem Berry Gordy, der bereits 1959 mit seinen Motown Records seine legendäre Plattenfirma gegründet hatte, die mit ihrem speziellen Sound reihenweise schwarze Künstler in die damals überwiegend weißen Popcharts katapultierte.

Je näher die City rückt, desto kleiner werden die Trümmer­berge und desto mehr architektonische Hinweise tauchen dafür auf, dass De­troit sich in einem atemberaubenden Wandel befindet. „Welcome to Comeback City, yeah!“, sagt Steve Kovalsky (38), der 15 Jahre lang am Ford-Fließband in Dearborn Windschutzscheiben eingepasst hat, bis er wegrationalisiert wurde.

Kovalsky schlug sich durch

Er ist jedoch in „seiner“ Stadt geblieben, schlug sich ein paar Jahre durch und arbeitet jetzt als Doorman vor dem The Foundation Hotel, einer brandneuen Designer-Herberge in der Larned Street Downtown, die aus einer ausgedienten Feuerwehr-Wache entstanden ist. Viel Glas und Beton, dazwischen warmes Holz, futuristische Möbel und Lichtspiele; eine spannende Mixtur aus modernem Luxus und strenger Funktionalität.

„Wir Detroiter sind ein zähes Völkchen“, sagt Steve, „wir haben es irgendwie immer gewusst, dass irgendwann ein Wunder passieren wird.“ Und egal, wen ich in den nächsten Tagen fragen werde: Sie sagen alle dasselbe.

Die Stadt ist eines der wichtigsten Tore zu den Großen Seen

2008 geschah dieses Wunder dann wirklich, als der Korruptionssumpf ausgetrocknet wurde und der damalige Bürgermeister Kwame Kilpatrick zu 28 Jahren Gefängnis verurteilt wurde; nicht wenige Verwaltungsangestellte folgten ihm in den Knast oder wurden gefeuert. Die Finanzen Detroits kamen unter staatliche Kontrolle, und auch ein paar Casinos entstanden, um mit diesen zusätzlichen Einnahmen die Schulden rascher abzubauen und gleichzeitig die Infrastruktur anzukurbeln.

Die Q-Line-Straßenbahn in Detroit.
Die Q-Line-Straßenbahn in Detroit. © imago/ZUMA Press | Jim West

Das alles gehört einfach dazu, um besser zu begreifen, was zurzeit in Detroit geschieht – die vitale Auferstehung einer Stadt, die sich endlich daran erinnert hat, dass sie neben Chicago und Toronto auch eines der wichtigsten Tore zu den Großen Seen ist; diesem riesigen Landstrich, der unzählige attraktive Reiseziele in mehreren amerikanischen Bundesstaaten bietet. Das gilt auch für das unglaub­liche Farbenspiel des Indian Summer, das in diesen Tagen in den Wäldern ­Michigans, Ohios, Wisconsins, Illinois’ oder Pennsylvanias einsetzt.

Die Konstrukteure des Detroiter Aufbruchs schlagen geschickt einen zeitlichen Bogen von der traditions­reichen Geschichte bis in unsere Zeit und darüber hinaus. Das „alte“ Detroit zu seinen glorreichen Zeiten lässt sich dabei nicht nur in den Museen wie dem Detroit Institute of Arts, dem Henry Ford Museum oder in der plüschigen Pracht der Villa Edsel und Eleanor Fords im Nobelvorort Grosse Pointe bestaunen, sondern zum Beispiel bloß durch einen intensiveren Blick auf die Fassaden der zahlreichen Hochhäuser während eines Stadtspaziergangs; es sind imposante, architektonische Schmuckstücke aus Art déco und Postmoderne.

Alte Eisenbahngleise wurden zu Fahrradwegen

Das traditionsreiche Detroit ist aber auch eine Bar wie etwa der Grand Trunk Pub aus dem Jahre 1870 in der Woodward Avenue. Bloß dass jetzt eine moderne Straßenbahn daran vorbeifährt, die von den autoverwöhnten Detroitern zunächst misstrauisch beäugt und immerhin nach etwa drei Monaten zunehmend genutzt wurde. Alte Eisenbahngleise wurden wiederum zu Fahrrad­wegen umgestaltet, und wo es noch keine Bebauungspläne gibt, werden auf den Brachflächen bioorganische Gemüsebeete angepflanzt.

Es sind vor allem jüngere Leute, die es seit einiger Zeit aus den hektischen Megastädten und dem Silicon Valley hierher zieht . Sie sind stolz darauf, Teil des gemeinschaftlichen Wiederaufbaus zu sein. Sie sind Visionäre und treffen sich sonnabends auf dem Campus Martius Market oder im weltberühmten Heidelberg-Project, einem begehbaren Kunstwerk unter freiem Himmel, an dem der afroamerikanische Künstler Tyree Guyton seit 1986 in der Heidelberg Street im Osten der Stadt beständig arbeitet.

Sogar das Essen wurde neu erfunden

Sie erfinden sogar das amerikanische Essen neu, verzichten auf die kalorienreichen Riesenportionen und propagieren eine feine, leichte Küche. Und sie bringen sich ein im 50-Block-Projekt, einer gigantischen Stadtentwicklungs- und natürlich auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Ein erster Teil, das neue Veranstaltungszentrum Little Caesars, wurde gerade erst am 12. September eingeweiht.

Spätabends schlendere ich durch Greektown, die Vergnügungsmeile, in der sich Bar an Bar und Restaurant an Restaurant reiht – alle sind proppenvoll. Auch die Bürgersteige sind überfüllt. Es wird getrunken, gelacht, gefeiert und geflirtet. Es ist laut, aber friedlich und relaxed. Nein, niemand muss sich mehr fürchten – in der „Comeback City“.

Tipps & Informationen

Anreise Direktflüge gibt es zum Beispiel von Amsterdam mit Delta oder von Frankfurt mit Lufthansa.

Beste Reisezeit Von Mai bis Mitte Oktober. Die Sommer sind kurz und heiß, die Winter lang und hart.

Ausflüge oder Weiterreise nach Cleveland und Amish-County (Ohio), Ann Arbor (Universitätsstadt), Holland am Lake Michigan, Put-In-Bay auf der zauberhaften South-Bass-Insel im Eriesee (Fähre von Port Clinton oder Sandusky), Cedar Point (größter Achterbahnpark der Welt).

Restauranttipps Detroit Frühstücken im Hudson Café (www.hudson- cafe.com), Dinner im Grey Ghost (www.greyghostdetroit.com). Dort auf jeden Fall vorher telefonisch oder im Internet reservieren!

(Diese Reise erfolgte mit Unterstützung durch Great Lakes USA.)