Belgrad. Serbien ist ein Land im Interim zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und ein Ziel für Entdecker, denn es gibt keine Gebrauchsanweisung.

„Herzlich willkommen zum Donau-Rafting“, sagt Aleksandar Ciric und breitet die Arme aus. Beim Blick in die entsetzten Gesichter lacht er verschmitzt. „Das ist nur Marketing, bei uns ist alles ganz entspannt.“ Der Skipper der „Plivazuce Ostrvo“ (Schwimmende Insel) steht in Sweater und Shorts auf seinem selbst gezimmerten Floß. Leinen los, langsam tuckert die „Insel“ vom Anleger in Novi Sad auf die Donau. Träge fließt der Strom durch die Landschaft der Vojvodina im Norden Serbiens. Vorbei an mächtigen Weiden, Schilf­urwälder wiegen sich im Wind, dazwischen schiefe Holzhütten. Ein Graureiher fliegt auf. „Don’t worry, be happy“, der Gute-Laune-Hit von US-Sänger Bobby McFerrin, plätschert leise aus dem Lautsprecher. Wer will, kann ins Kanu umsteigen und den Fluss auf eigene Faust erobern.

Aleksandar Ciric, der früher Landwirtschaftsingenieur war, kennt hier jeden Meter. „Da vorn liegt ein Schiffswrack. Ich weiß nicht, aus welchem Krieg“, sagt er lakonisch und manövriert geschickt herum. Seit sieben Jahren bietet der 60-Jährige die begleiteten Kanutouren auf der Donau an. Mit seiner lässigen Lebenseinstellung ist er ein typischer Bewohner der autonomen Vielvölker-Provinz Vojvodina mit 26 Nationalitäten und fünf offiziellen Sprachen. „Wenn die Deutschen bei mir buchen, wollen sie alles ganz pünktlich“, sagt der „Insel“-Kapitän. Wichtig seien aber letztlich nur Abfahrt und Ankunft. „Bis jetzt hat sich noch nie jemand beschwert.“ Zeit zum Genießen.

Als Reiseland ist Serbien die große Unbekannte des Balkans

Weithin sichtbar überspannt die neue Freiheitsbrücke in Novi Sad den Fluss. Die alte Querung wurde während des Kosovokonfliktes im April 1999 bei einem Nato-Angriff zerstört. Späte Folge des Zerfalls Jugoslawiens und der Balkankriege von 1991 bis 1995, in denen das Serbien der Milosevic-Ära eine ex-trem nationalistische Politik verfolgt hat. Das ist Geschichte, Narben bleiben, auch wenn sich am Strand unter der mit EU-Mitteln wieder errichteten Brücke nun Sonnenhungrige aalen.

Serbien 2017, das ist eine Fläche etwas kleiner als Österreich mit 7,1 Millionen Einwohnern, eine wilde Mischung aus abwechslungsreichen Naturlandschaften mit stillen Dörfern, abgelegenen Klöstern und Städten mit quirligen Zentren, in denen geschichtsträchtige Monumente, billige Kioske und inter­nationale Ketten, verblasster K.-u.-k.- Charme, spröde Plattenbauten der Tito-Ära und manchmal auch Bombenruinen nah nebeneinanderstehen. Ein Land im Interim zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ein Land, für das es (noch) keine Gebrauchsanleitung gibt.

Im Café Transit im Belgrader Szeneviertel Savamala sitzen die jungen Mütter auf Sofas mit Camouflage-Bezug, ein Tarnnetz schirmt die Nachmittagssonne ab. Das baufällige Gebäude steht in einer kleinen Straße am Ufer der Save, wo in den vergangenen Jahren Kreative Raum fanden und sich abends das Partyvolk amüsiert. „Wir wissen nicht, wie lange das noch so ist“, sagt Ana und schaukelt ihr Baby. Ein Teil der alten Uferbebauung ist schon abgerissen. Ein arabischer Investor will in der 1,7-Millionen-Kapitale das gigantische Projekt Belgrade Waterfront errichten, eine Art Hamburger HafenCity im XL-Format. Die ersten beiden Hochhäuser sind im Bau und eine Promenade. Das geht nicht ohne Widerstand. Auch – oder gerade – im postsozialistischen Nachkriegs-Belgrad sind es Freiheitswille und Unternehmergeist, die auf fast subversive Weise den Wandel tragen.

Belgrad wurde 40-mal zerstört im Laufe der Jahrhunderte

Nur wenige Hundert Meter oberhalb, auf der Festung Kalemegdan, wo schon Kelten und Römer aufeinander eindroschen, später Goten, Hunnen, ­Byzantiner, Ungarn, Osmanen, Österreicher kamen, siegten und starben, und danach deutsche Wehrmacht, Rote Armee und Titos Partisanen, ist dies Erbe erlebbar. Allein in Belgrad gab es über die Jahrhunderte 117 Kämpfe, 40-mal wurde die Stadt zerstört. Das prägt, auch wenn sich heute im Park der Zitadelle bei Sonnenuntergang Verliebte zum Stelldichein verabreden, in den Altstadtstraßen die Belgrader unter duftenden Linden zwischen hohen Häusern im Mix unterschiedlicher Baustile spazieren und in den Clubs junge Leute das Leben feiern. „Belgrad“, sagt die junge Tourismusmanagerin Aleksandra Dolapcev, „ist keine schöne Stadt, aber eine lebendige. Wird es immer sein.“

Als Reiseland ist Serbien die große Unbekannte des Balkans. Im Westen kannte man vom ehemaligen Jugoslawien vor allem die Adriaküste Kroatiens und die Plitvicer Seen aus den Winnetou-Filmen. Nach Serbien kamen 2016 gerade mal knapp 64.000 Touristen aus Deutschland, im Durchschnitt für zwei Tage. Insgesamt wurden 1,28 Millionen ausländische Besucher gezählt. Immerhin: Die Zuwachsraten liegen im zweistelligen Bereich. Urlaub in Serbien, einem Land mit einer Arbeitslosenquote von aktuell fast 17 Prozent, ist günstig. Ein Kaffee kostet etwa 80 Cent, ein einfaches Hotelzimmer gibt es ab 30 Euro. Bei einem Vergleich der Urlaubsnebenkosten in 20 europäischen Städten des ADAC war Belgrad mit Abstand die günstigste Metropole.

Außerhalb der Stadt ticken die Uhren langsamer. Das liegt auch an dem schlechten Zustand der Straßen. Richtung Westen geht es vorbei an sanften Hügeln, Wäldern, Feldern und Weinreben. Ortsschilder mit kyrillischen Buchstaben huschen vorbei. Am Wegesrand sitzen Bauern vor Verkaufsständen, bieten Obst und Eingewecktes an. Ziel ist die Ovcar-Kablar-Schlucht. Umgeben von einem beeindruckenden Bergmassiv, an der höchsten Stelle 1000 Meter hoch, mäandert die West-Morava in engen Schleifen. Man kann in diesem Naturparadies, in dem 160 Vogelarten leben, 200 verschiedene Schmetterlinge und 44 Säugetiere, das Boot nehmen – sowie Wandern, Radeln, Klettern, Reiten, Angeln, Tauchen oder Paragleiten.

Groß ist die Sehnsucht nach einer verbindenden Identität

Es ist auch ein heiliger Ort. Während der türkischen Besatzungszeit wurden elf Klöster gegründet, unzugänglich in dem Gebirgszug. Das Leben dort hat sich kaum geändert. Novizin Katarina, 31 Jahre alt und in strenges Schwarz ­gekleidet, steht in der mittelalterlichen Kirche der Klosteranlage Nikolje. Zum Gelübde von Armut, Arbeit und Gehorsam gehören an manchen Tagen auch sechs Stunden Gebet – und die Auskunft für Gäste.

In holprigem Schul­englisch erzählt die junge Frau von wert­vollen Schätzen, darunter ein Teil eines Fußes des heiligen Nikolaus. „Das ist besonders, denn eigentlich sind die Reliquien in Bari.“ Danach führt sie in den Klosterladen, in dem es Maismehl, selbst gemachte ­Slodko, eine serbische Süßigkeit, und Ikonen für den Hausgebrauch gibt.

Und Serbien ist ebenfalls ein Land der unterbrochenen Erinnerungen. Ist deshalb die Sehnsucht nach einer verbindenden Identität und einem kulturellen Erbe so groß? Prinz Aleksandar II., Nachfahr des serbischen Königsgeschlechtes, der vor 14 Jahren aus dem Exil zurückgekehrt war, und seine Familie sind bis heute eins der Lieblings­themen des Boulevards – auch wenn der 72-jährige Rentner mit seiner Frau in einem Schloss in Belgrad lebt und nicht in der Nähe des königlichen Mausoleums auf dem Hügel Oplenac im Städtchen Topola, wo Anfang 1806 die Re­bellion gegen das Osmanische Reich begann und den jedes Jahr Zigtausende serbische Schüler besuchen.

Für ein Land ohne Meer gibt es in Serbien ziemlich viel Wasser

Einige Kilometer weiter steht ein Männerchor aus Slowenien und singt ein serbisches Volkslied vor der male­rischen Kulisse des Ethnodorfes Drvengrad in Mokra Gora, zwischen dem Nationalpark Tara und dem Zlatibor-­Gebirge. Einen Moment lang halten die Besucher der 90 Holzhäuser inne, die Filmregisseur Emir Kusturica in traditioneller Bauweise für den Film „Das Leben ist ein Wunder“ errichten ließ. Inzwischen ist das Örtchen, das mit Serbien so viel zu tun hat wie eine Foto­tapete, ein Touristenmagnet. Unter dem Terrassendach am Dorfplatz werden traditionelle Gerichte mit viel Fleisch serviert – und natürlich Sliwowitz. Jedes Jahr im Januar kommt der Glamour der Filmwelt ins serbische Hinterland, wenn dort ein international beachtetes Filmfestival stattfindet.

Die letzte Station der Tour liegt im äußersten Westen an der Grenze zu Bosnien. Für ein Land ohne Meer gibt es in Serbien ziemlich viel Wasser. Den Mittellauf der Donau mit 588 Kilometern, Morava, Save, Theiß – und Drina. Auf dem Grenzfluss nach Bosnien paddelt der Abenteurer Milan Neskovic durch die Stromschnellen. Nebenbei erzählt der ehemalige National-Kanute, dass er in dem Abschnitt schon 40 Menschen das Leben gerettet hat. Darunter auch viele Bosnier. „Touristen erwarten etwas anderes, als sie finden“, hatte Reiseführerin Simonida Popox-Dihovicni am Anfang der Reise gesagt. Als am letzten Abend kurz vor Bajina Basta auf einem Felsen im Strom ein kleines Haus auftaucht, eine verwunschene Vision von Frieden und Freiheit, kann man nur sagen: Stimmt.

Tipps & Informationen

Anreise Flüge von Berlin, z. B. mit Air Serbia oder Air Berlin nonstop nach Belgrad. Von Hamburg nonstop mit Air Serbia oder mit Eurowings über Stuttgart.

Unterkunft Es gibt Campingplätze, Privatzimmer und eine wachsende Zahl an Hotels. Belgrad hat die größte Auswahl, z. B. das Hotel Metropol Palace ab 95 Euro/DZ, sonst ab 145 Euro/DZ, www.metropolpalace.com; Mokra Gora Tourist Resort Mecavnik/Küstendorf
ab 60 Euro/DZ, www.mecavnik.info. Zahlreiche Veranstalter bieten Serbien-Arrangements an, z. B. Balkan- Adventure: www.Balkan-adventure.de

Auskunft www.serbien.travel

(Diese Reise erfolgte mit Unterstützung durch die Nationale Tourismus-Organisation Serbiens.)