Lindow. Idyllisch im Gudelacksee liegt die Insel Werder bei Lindow. Wer das Fleckchen in Brandenburg besucht, erlebt ein kleines Abenteuer.

Das kleine Motorboot ist voll bepackt mit Taschen, Schlafsäcken, Decken und jeder Menge Proviant. Alles, was für die nächsten Tage in der deutschen Wildnis so gebraucht wird. Denn am Ziel der kleinen Bootsfahrt gibt es nichts – kein Strom, kein Warmwasser, kein festes Dach über dem Kopf, keinen Laden. Auch kein anderer Gast sei an diesem Wochenende da, sagt Ricky Conrads, die zum Inselteam gehört und Ausflügler und Urlauber zur Insel Werder übersetzt.

Dafür würden ein riesiger Naturraum und viele Tiere die Besucher erwarten: Fischotter, Waschbären, Biber, Fledermäuse, ja sogar ­Rehe, die vom Festland rübergeschwommen sind. „Außerdem leben Schafe, Ziegen und Pferde dort“, sagt sie – und am Anleger nebenan einige Freizeitkapitäne. „Das ist der Wasserwanderrastplatz, der unter städtischer Verwaltung steht.“

Wie ein königsblaues Satintuch breitet sich der Gudelacksee vor dem Städtchen Lindow aus. In sanften Wellen umspült er die Sandstrände der Insel Werder. Das Wetter zeigt sich dazu von seiner besten Seite: blauer Himmel, Sonne satt bei über 20 Grad. Prima Bedingungen für das Programm der nächsten Tage.

In Camper-Manier wird in Baumwollzelten geschlafen

Nach etwa zehn Minuten Fahrzeit legt das Boot an einem Steg auf der Insel Werder an, mit den Gepäckstücken in der Hand geht es zu einer Wiese mit über 100 Jahre alten Apfelbäumen. In der Mitte befindet sich eine Feuerstelle, vor aufgeschichtetem Holz zwei Herde. Unter einem überdachten Außensitz stehen Biergartengarnituren. Rund 20 Meter weiter in der Scheune, dem einzigen Gebäude der Insel, ist eine Art Küche untergebracht mit Geschirr und Vorratskammer.

Zudem gibt es eine Komposttoilette auf diesem etwas anderen Eiland. Geschlafen wird ganz nach klassischer Campermanier auf Isomatten in drei großen Baumwollzelten, gekocht im Freien und mit Feuer auf den Wiesenherden. Streichhölzer, Feuerzeuge liegen bereit. Der Abwasch erfolgt in Plastikschüsseln mit Bio-Spülmittel. Wasser kommt aus der Pumpe, auch zur Körperreinigung. Ein Ablauf fernab der sonstigen eigenen Realität.

Bei der Inseleinweisung ist großen Menschen endgültig klar, dass dieses Wochenende ein Abenteuer wird. Kleine Menschen brauchen häufig einen Tick länger, bis sie die Lage begreifen. Sie fragen dann schon mal irritiert nach: „Wo ist noch mal die Spüle vom Klo?“ – „Und wo noch mal das Bad?“ Eins ist ­sicher: Die nächsten Tage werden auf­atmen lassen von Reizüberflutung und Reglementierung. Zudem werden sie ein guter Selbsttest dafür sein, ob man ohne Komfort wie Strom, Dusche klarkommt. Für die zauberhafte Natur ringsum nimmt man jedoch einiges in Kauf.

Inselbesucher besinnen sich aufs Wesentliche

Wer den See durch die Erlenstämme glitzern sieht, dem Rauschen der Bäume zuhört, versteht, weshalb Stefan Schacht im Jahr 2007 die 45 Hektar große Insel Werder, die eine Autostunde von Berlin-Mitte entfernt ist, erworben hat. Einst war sie das Industriegebiet von Lindow. Im 17. Jahrhundert gab es hier eine Ziegelei, von 1900 bis 1950 baute man Ton ab, wie Inselverwalter Steffen Schindel tags darauf bei einer Stippvisite schildert: „Zeitweise lebten bis zu 300 Menschen auf der Insel, seit den 70er-Jahren niemand mehr.“

Als Schacht die Insel kaufte, war sie zugewuchert und vermüllt, von Campern und Wassertouristen. Nun ist sie ein Biotop mit zwei Seen – und eben das „Inselkind Lindow“ für Schulklassen, Naturfans, Kitagruppen oder Vater und Sohn. Dieser Fleck Erde ist für Kinder ein Riesenspielplatz mit Schaukeln, Kletterseilen, viel Raum zum Toben und Entdecken. Große finden auf ihr Ruhe und Abgeschiedenheit und besinnen sich auf die wahren Dinge des Seins.

Alle Hektik ist plötzlich wie verflogen

„Raus aus dem Alltag, lautet unsere Philosophie“, sagt Steffen Schindel. „Wir nehmen vieles im Leben als selbstverständlich hin. Hier auf der Insel merkt man plötzlich, dass bestimmte Handlungen Zeit brauchen. Bis das Wasser kocht, kann beispielsweise eine Stunde vergehen.“ Die Probe aufs Exempel wird auf morgen vertagt. Gesättigt von den Eindrücken, kann die Küche am ersten Tag gern kalt bleiben. Brot mit Aufschnitt und Käse schmeckt bei Kerzenschein genauso gut. Über der Wiese funkelt der kleine Wagen am Firmament, umringt von tausend Sternen.

Am Morgen leuchtet die Sonne durch den Zeltstoff. Leichte Nebelschwaden wabern über dem See, Vögel begrüßen den Tag mit einem fröhlichen Ständchen. Die Zähne werden unter der Pumpe geputzt. Das Feuer im Herd wird trotz klammer Holzscheite erfolgreich entfacht und der Pott Milchkaffee anschließend voller Stolz genossen. Ein Baumstamm am Ufer ist dafür ein schöner Platz. Und schon ergreift einen die Langsamkeit. Alle Hektik ist weit weg. Weniger machen ist auf der Insel mehr, unabdingbare Handgriffe genügen.

Der Blick schweift über den schimmernden See. Eine Entenfamilie schwimmt vorbei, gefolgt von einem himmelblauen Hausboot. Über allem strahlt die Sonne. Schräg gegenüber säumt Lindow das Ufer, ein Kirchturm spitzt sich aus der Häuseransammlung empor, Segelboote verlassen den Hafen.

Zutaten fürs Essen wuchsen eben noch im Biogarten

Nach einer Stunde klatschen sanft Paddel aufs Wasser. Der Rest der Gruppe ist zurück. Er hat mit dem Kanu die Insel umrundet und erzählt aufgeregt von Wurzeln, tief hängendem Dickicht und Graureihern auf dem See. Wie kleine Tarzane schwingen sich die Kinder alsbald am Ufer an einem Seil übers Wasser. Die Eltern beschäftigen sich mit Holz hacken, Ofen heizen, Wasser pumpen, schnibbeln, köcheln. Das braucht Zeit. Die Zutaten fürs Mittagessen wuchsen bis vor wenigen Minuten noch hinter der Scheune im Biogarten. Frühlingszwiebeln, Tomaten, Rüben, Paprika und Kartoffeln wurden hier geerntet.

Zum Nachtisch gibt es frisch gepflückte Äpfel. Mit solchen in den Händen lässt sich prima der entschleunigende Fußmarsch über die Insel starten. Wenige Schritte später werden zuerst die drei Lamas auf dem Werder begrüßt, die das Holzgatter zu den angrenzenden Weiden und Wiesen zu bewachen scheinen. Dahinter stürmt in einiger Entfernung ein Ziegenbock mit riesigen Hörnern auf die Gruppe zu. Eine Horde Kollegen folgt dem Chef und blökt wie blöde hinter dem Zaun ihrer Weide. Unweit von der Truppe grasen Pferde auf einer Koppel, mittendrin ein ungelenktes, süßes Fohlen. Geübte Reiter dürfen ohne Begleitung über die Insel galoppieren, für alle anderen organisiert Lothar die Reitlehrerin, erzählt er später.

Erlebnisparkour am Ufer des inseleigenen Sees

Für Kinder gleicht die Insel einem Abenteuerspielplatz – auch ohne angelegten Erlebnisparkour.
Für Kinder gleicht die Insel einem Abenteuerspielplatz – auch ohne angelegten Erlebnisparkour. © HF | Picasa

Der Pfad des Rundwegs führt in den Wald hinein, wo linker Hand der Gude­lacksee durchs Geäst glitzert. Käfer werden begutachtet, Spinnen und Blätter. Inmitten üppigen Grüns gibt die Natur den Blick auf einen der beiden insel­eigenen Seen frei, an dessen Ufer das Inselteam einen Erlebnisparkour angelegt hat. Unter umgebrochenen Bäumen kraxelt die Gruppe hindurch, versucht sich an der nächsten Etappe im Seiltanz. Über eine mit Holzpfählen ausgelegte Brücke geht’s durch mannshohes Schilf zur Frontseite des Sees, der voll ist mit Schleien, Hechten und Zandern.

Da unter uns keine Angler weilen, gibt es an diesem Abend Nudeln mit Tomatensoße. Das Feuer ist ruck, zuck entfacht. Mittlerweile sind wir schon Semi-Profis und wissen, wie wir den Wind abhalten und worauf es sonst noch ankommt: Birkenrinde als Anzündhilfe, genügend Streichhölzer. Während die Sonne hinter den Bäumen versinkt, verschwindet alsbald das Essen von den Tellern.

Seeblick und Natur entschädigen fürs Wetter

Am Sonntagmorgen wecken uns Regentropfen. Zur Not könnte man in die Scheune flüchten, hat Steffen Schindel gesagt. Aber so schlimm wird es nicht, im Inneren des Zeltes bleibt es trocken. Zum Glück ist die Luft mild und warm. Der Kaffee allerdings nicht. Da macht das Wetter einen Strich durch die Rechnung. Das Holz ist zu feucht geworden, lässt sich nicht entzünden. Zu allem Übel bläst der Wind das letzte Streichholz aus. Seeblick und Natur entschädigen, und die Rettung naht ohnehin.

Rickys Motorboot ist zu hören. Sie kommt, die Gruppe abzuholen. Das Abenteuer ist vorbei. Sack und Pack werden wieder verladen. Es geht rüber nach Lindow, zurück in die Zivilisation. Nach einem Spaziergang durchs Städtchen und zum kleinen Hafen wird ein Plätzchen in Rheinsberg gesucht.

Experiment ist geglückt

Als im Restaurant Seepavillon der Cappuccino vor der Nase dampft, denkt der ein oder andere an das Wochenende. Das Experiment ist im Großen und Ganzen geglückt. Jeder hat eine sagenhaft schöne Natur kennengelernt, Lamas gesehen, Feuer entfacht und weiß die Annehmlichkeiten der Gegenwart neu zu schätzen. Mit der Erfahrung des ersten Mals würde man manches vielleicht beim zweiten Besuch auf der Insel anders machen – in jedem Fall jede Menge Streichhölzer einpacken.

Tipps & Informationen

Anschrift Inselkind Lindow, Am Gudelack 24, 16835 Lindow, www.inselkind-lindow.de,
Tel. 0174/8460465, Übernachtung 20 Euro pro Nacht pro Person.

Restaurant Seepavillon in Rheinsberg, www.fischkiste.de, Tel. 033931/25 14

(Die Reise wurde unterstützt vom Inselkind Lindow.)