Seattle. In Seattle im Nordwesten der USA herrscht ungewöhnliche Energie. Die Stadt am Pazifik bringt viele Erfinder und Unternehmer hervor.

In kräftigem Goldgelb fließt es langsam in unsere Gläser, gluckert dabei leise und verführerisch und haucht zum Schluss gekonnt weißen Schaum als Krönung obendrauf. Obwohl aus einer Dose kommend, entwickelt das einzigartige „Boombox“ Indian Pale Ale von Ryan Hilliard in Seattle bereits hierbei einen solch würzig-frischen Duft, dass uns das Wasser im Munde zusammenläuft. Schon der erste Schluck des selbst gebrauten Bieres ist eine kulinarische Offenbarung.

In manchen Dingen sind die USA beneidenswert einfach und offen: Wer Lust hat, etwas auszuprobieren, kann es tun – ohne staatlichen Abschluss, ohne Ausbildung, ohne Innung oder dergleichen. Beim Bierbrauen bedeutet das ein fröhliches Experimentieren mit verschiedenen Anteilen von Hopfen, Malz, Gerste und Hefe. Und warum nicht, wie beim Kochen, vorsichtig Gewürzen zugeben? Ryan Hilliard ist einer von vielen jungen Männern und auch Frauen in Seattle, die sich voller Leidenschaft dem Bierbrauen verschrieben haben. Was dabei herauskommt, ist umwerfend. „Es geht immer um die drei F: Firkin, Furlong, Fortnight – Zeit, Temperatur und Konzentration“, erklärt er. „Und vor allem darum, wie viel Malz und Hopfen zugegeben werden.“

Bierbrauen hat sich hier zu einem Boom entwickelt

Die unterschiedlichen Malzsorten, die Ryan verwendet, stammen aus einer kleinen Malzmanufaktur aus Kanada, den Hopfen bezieht er hauptsächlich aus dem Yakima Valley, in dem 85 Prozent des amerikanischen Hopfens angebaut werden. Sein Boombox IPA schmeckt stark, intensiv, würzig mit Anklängen an Zitrone. Mit 6,5 Prozent Alkohol und einem IBU (das ist der International Bitterness Unit) von 70 gehört sein goldgelbes Getränk zu den Bieren mit einem hohen Bitterkeitsfaktor. Auch hier probiert er aus, testet verschiedene Zusammensetzungen.„Genetisch gleicher Hopfen schmeckt überall anders. Wächst er in Australien und Neuseeland, schmeckt er fruchtiger und erinnert an Grapefruit und Zitrone.“

Ryan Hilliard lässt uns noch mehr Kostproben zukommen: Sein Chrome Satan ist etwas dunkler und milder und mit spezieller Hefe, die sonst für Lagerbier verwendet wird, hergestellt. „Brauer machen die Arbeit, und die Hefe macht das Bier“, strahlt er.

Das Bier jedenfalls hat sich hier im Nordwesten von Seattle zu einem wahren Boom entwickelt. Überall im Viertel entstanden in den vergangenen Jahren Brauerein, es wird geköchelt und gebräut, fermentiert und gegärt, Hefe probiert und Gerste gekaut, Hopfen gehackt, Gewürze getestet und Wasser auf seine Zusammensetzung untersucht – und anschließend Freunden zum Probetrinken vorgesetzt.

Seattle scheint irgendetwas an sich zu haben, was Unternehmer und Erfinder hervorbringt oder magisch anzieht. Ist es die Energie des 4400 Meter hohen, erhabenen Mount Rainier, des stillen, aber aktiven Schichtvulkans, dessen schneeweiße Spitze auch 87 Kilometer weit entfernt klar und schön wie auf einer Panoramapostkarte sichtbar ist? Oder liegt es am Pazifik? An der Cascadia-Subduktionszone, dem unsichtbaren Graben, der sich von Nordkalifornien über Seattle bis nach Kanada zieht? Hier stoßen zwei Kontinentalplatten aufeinander, Seattle steht zusätzlich auf einer eigenen Platte – die Energie strömt hier anscheinend schon aus dem Boden.

Seattle ist eine sehr geschäftstüchtige, aber keine hektische 700.000-Einwohner-Stadt im äußersten Nordwesten der USA. Bill Gates hat hier sein Microsoft-Imperium aufgebaut, Starbucks seinen weltweiten Siegeszug angetreten – und dabei erst vor kurzem die inzwischen fast als deutsches Nationalgetränk geltende Latte Macciato eingeführt – , Amazon hat ein neues Firmenzentrum gebaut, die weltweit erste Bitcoin-Konferenz fand 2013 hier statt.

Auf dem Pike Place Market befindet sich die allererste Starbucks-Filiale

Wer sich offensichtlich anstrengt und etwas auf die Beine stellen will, ­erhält schnell Unterstützung. Als ­Piroshky, die berühmteste russische ­Bäckerei des Pike Place Market, Konkurrenz von einer weiteren russischen ­Bäckerei bekam, die am Eröffnungstag von begeisterten Kunden fast eingerannt wurde, steckte am nächsten Morgen dennoch ein Umschlag mit 10.000 Dollar unter der Tür – ohne ein Wort. Alle vermuteten Piroshky hinter der Aktion, die Starthilfe gab. Bill und Melinda Gates spenden zwar pro Sekunde 125 Dollar, doch gehen sie dabei streng nach Effizienz des zu erwartenden Nutzens vor. Obdachlose und psychisch Kranke, von denen es in Seattle viele gibt, ­werden offensichtlich nicht bedacht. Das Elend dieser Menschen, die sich in Seitenstraßen zusammenrotten oder halb verhungert und unfassbar verdreckt vor manchem Geschäftseingang vegetieren, steht in krassem Gegensatz zu der sonst so aufgeschlossenen und erfolgreichen Einwohnerschaft.

Auf dem Pike Place Market befindet sich auch die allererste und recht unscheinbare Filiale von Starbucks, vor der sich täglich Scharen von Touristen tummeln. Dabei ist der „Reserve Roastery and Tasting Room“ wesentlich sehenswerter. Die Markthalle direkt am Wasser hat sich ihren ursprünglichen Charme bewahrt und ist nicht zum Touri-Magneten verkommen. In seinen kleinen Gängen kaufen viele Küchenchefs der Stadt ein: frische Fische und Meeresfrüchte aller Art, gefangen direkt vor der Haustür, aus Puget Sound, Lake Washington oder dem Pazifik. Kartoffeln sind in drei Farben erhältlich, Äpfel, Auberginen und Pflaumen dreimal so groß wie bei uns, hochglanzbeschichtet und absolut identisch.

Erin Andrews, die ihren kleinen Laden „indi chocolate“ im Untergeschoß führt, kreiert aus Kakaobohnen unter anderem Gewürzmischungen für Fleisch und Fisch und trifft damit den Geschmack von Seattle mitten ins Herz: Man speist gerne gut – was in den USA pro Person schnell 100 Dollar samt Wein kostet – und man probiert gern Neues aus. Schokolade mit grober Salzkruste zum Beispiel oder handgemachtes KuKuRuZa Gourmet Popcorn mit Bacon – köstlich, und passt übrigens bestens zum würzigen Craft Beer.

Knallbunte Glasgebilde und Star-Trek-Sonderausstellung

Natürlich sollte man sich für die ­üblichen Sehenswürdigkeiten einen Tag Zeit nehmen: die Chihuly-Garden-and-Glass-Ausstellung mit knallbunten, amorphen, überdimensionierten Glasgebilden besuchen und mit der extra für die Weltausstellung 1962 gebauten Bahn zur Space Needle fahren. Anschließend lohnt sich ein Besuch im EMP Museum, mit dem der Gründer seinem großen Idol Jimmy Hendrix ein Denkmal setzen wollte. Inzwischen ist es auch ein Denkmal für Nirvana mit vielen Filmausschnitten und schafft es, grandiose Ausstellungen auf die Beine zu stellen. So zeigt das EMP nach einer Star-Wars-Sonderausstellung ganz aktuell „Star Trek: Exploring New Worlds“. Bis zum 27. Februar 2017 ­haben Besucher zum Beispiel die Möglichkeit, sich in einem Film von einem Ort zum anderen zu beamen. Und sie können Captain Kirks Kommandostuhl und Navigationskonsole sehen.

Wer den amerikanischen Traum von Freiheit und Wildnis sucht, für den ist Seattle übrigens auch ein guter Ausgangspunkt. Erst vor gut 150 Jahren ­kamen die ersten Siedler hierher, und auf unerklärliche Weise fühlt man beim Blick über die Stadt vom Kerry Park aus immer noch das unberührte „Indianerland“. Mit dem Wasserflugzeug überfliegt man das weitläufige Seengebiet und landet nach einer halben Stunde in Alderbrook, wo das gleichnamige, ein wenig rustikale Luxusresort zum Aufenthalt einlädt, das umgeben ist von absoluter Wildnis. Denn nicht nur wegen des hervorragenden Bieres und der ganz ausgezeichneten Küchenkünste muss man nach Seattle – auch wegen der unermesslich weiten und menschenleeren Natur, die den Besucher nur einen Steinwurf von der Großstadt entfernt lockt, ist die Stadt in Pacific North-West eine Reise wert.

Tipps & Informationen

Anreise z. B. mit Condor und Lufthansa über Frankfurt oder mit Delta und KLM über Amsterdam.

Übernachtung z. B. Hotel Max, 620 Stewart Street, ab ca. 114 Dollar

Ausflugstipps EMP Museum, 325 Fifth Avenue N, EMPmuseum.org; Space Needle, 400 Broad St; Chihuly Garden and Glass, 305 Harrison St; Alderbrook Resort, 10E Alderbrook Dr; Hilliard’s Beer; Starbucks Reserve Roastery & Tasting Room, 1124 Pike St

(Die Reise wurde unterstützt von visitseattle.org.)