Binz. Investoren erschaffen aus den alten Kraft-durch-Freude-Ruinen bei Binz auf Rügen eine riesige Ferienanlage mit Wohnungen und Hotels.

Am schönsten ist es frühmorgens, wenn die Sonne über der See aufgeht. Rund und groß, das Rot im fahlen ersten Licht, so romantisch wie auf einem Gemälde von William Turner. Vergangenheit oder Zukunft, worum es in ­Prora eigentlich immer geht, sind in diesem Moment weit weg. Was zählt ist: jetzt. Die Wellen rollen an den Ostseestrand, in aquamarinblau. Vögel zwitschern in den Kronen eines schmalen Kiefernhains, unter den Füßen verformt sich der feine Sand. Und das nur wenige Schritte entfernt vom Ferienbett. Das Seebad Binz, Sassnitz und die berühmten Kreidefelsen sind quasi um die Ecke. Zu schön, um wahr zu sein?

Prora ist ein besonderer Ort. Manche sagen ein Unort, belastet durch zwei Diktaturen. Die Nationalsozialisten bauten zwischen 1936 und 1939 an der Prorer Wiek, einer der beeindruckendsten Buchten Rügens, eine gigantische Urlaubsfabrik. Angeblich hatte Hitler selbst die Idee. 20.000 Menschen sollten in den fünf Kilometer langen, kammförmigen Bettenhäusern mit Meerblick gleichgeschaltet Kraft schöpfen. In der DDR wurde der unvollendete Koloss dann Kaserne und Sperrgebiet.

Das Projekt ist Chance und Bürde

Jetzt erschaffen Investoren aus den Ruinen ein neues Seebad. Statt Urlaub fürs Volk geht es heute um Urlaub für Besserverdienende. Die Dimension ist wieder monströs: Hotels, Ferienapartments und Eigentumswohnungen entstehen. „Mit Platz für mehrere tausend Menschen“, sagt Kai Gardeja, Kurdirektor des Ostseebads Binz, zu dem Prora als Ortsteil gehört. Das ist Chance und Bürde. „Es ist eines der größten touristischen und städtebaulichen Entwicklungsprojekte in Norddeutschland, quasi Binz mal zwei.“ Mehr als 900 Millionen Euro sollen Schätzungen zufolge in die Veredlung Proras fließen. Die Fertigstellung des modernen Ferienparks ist für 2022 angepeilt.

Im Block 2 des einstigen „Kraft durch Freude“-Komplexes ist die neue Zeit schon angebrochen. Die sechsstöckige Fassade strahlend weiß verputzt, hohe Fenster, klare Linien, zum Meer Balkone aus Glas. Leicht und sommerlich wirkt das, modern. Die schwere Last der Geschichte, die mit der Grundsteinlegung vor 80 Jahren begann, ist wie aufgehoben. Inzwischen sind die ersten Bewohner eingezogen, auch ei­nige Urlauber sind schon da. „Die Lage ist einfach unbeschreiblich“, sagt ein Gast, der mit seiner Frau glückselig über den Kiefernstreifen auf die Ostsee guckt. Dabei braucht man schon guten Willen für die Urlaubsidylle, denn noch lärmen im Block nebenan Presslufthammer. Bagger heben vor dem Haus Erde für die Außenpools aus. „Wir haben ­viele Anfragen. Die Buchungslage für die Hauptsaison ist gut“, sagt Thomas Heinrich, Projektmanager beim Ferienhausanbieter Novasol, der seit Februar Wohnungen in Fünfsternekategorie für die Prora Solitaire Hotel Apartments & Spa vermietet – bis Anfang Juli noch mit Preisrabatt. Dann erst soll auch die Hotellobby mit Bar und Restaurant fertig sein. Im Herbst ist die Eröffnung des Spabereichs geplant.

Erst Abbau, dann Wiederaufbau

Hinter der Metamorphose vom Nazibetonklotz zur stylishen Nobelherberge steht der Berliner Ulrich Busch, Sohn des Arbeiterbarden und Schauspielers Ernst Busch und einer der ersten, der das Potenzial von Hitlers Urlaubsgigantonomie erkannte. 2006 kaufte er mit einem Partner die Blöcke 1 und 2, insgesamt 36 Hektar Grund und Boden, für 445.000 Euro vom Bund. Er beantragte Baugenehmigungen für die Anlage. Der Durchbruch kam aber erst, als der findige Immobilienentwickler die Denkmalschützer anhand historischer Fotos davon überzeugen konnte, dass auch Hitlers Architekten Balkone für die zehn Quadratmeter großen Gästezimmer angedacht hatten. Genau das, was ihm noch fehlte. Seitdem läuft die Sache. „Wir führen Geschichte weiter“, nennt Busch das. In zwei Jahren Bauzeit wurden große Teile des Blocks 2 auf den Rohbau runtergebrochen und mit komplett neuem Innenleben wieder aufgebaut. 20.000 Tonnen Bauschutt, schätzt Bauleiter Karl Klupp, bewegen seine Leute in dem 500 Meter langen Komplex. Inzwischen gehört das Objekt der Berliner Firma Prora Solitaire, für die Busch tätig ist. Vier der zehn Hausabschnitte sind an andere Unternehmen weiterverkauft. Auch der Block 1 hat schon zum zweiten Mal den Besitzer gewechselt. Das Engagement zahlt sich aus: In beiden Blocks sind nahezu alle Wohnungen verkauft – fast 700.

Schon von weit her sind die Kräne zu sehen, Hunderte Bauarbeiter sind am Start. Und jeden Tag pilgern die Neugierigen zu diesem Bauprojekt. Auch Karl-Heinz Olschewski mischt sich immer wieder in den Besucherstrom. Der 73-Jährige kennt Prora bestens. Seit 36 Jahren wohnt der ehemalige Ausbilder der Nationalen Volksarmee in einem der wenigen Wohnblocks des 1000-Einwohner-Orts und sitzt als Fraktionschef der Linken im Binzer Gemeinderat.

„Es herrscht Goldgräberstimmung“, sagt der Lokalpolitiker und weiß nicht so richtig, wie gut er das eigentlich findet. „Ich bin ein ernsthafter Verfechter, dass hier etwas passiert“, sagt Olschewski. „Aber ich möchte nicht, dass nur das Luxussegmet bedient wird. Prora soll kein zweites Sylt werden, wo sich die Angestellten keine Wohnung mehr leisten können.“ Die Gemeindevertreter, so seine Vorstellung, müssten den „schlimmsten Wildwuchs“ verhindern.

7000 Euro pro Quadratmeter

Das klingt ein bisschen wie David gegen Goliath. Und es geht ja auch alles so schnell. Selbst wenn die neue „Wohlfühloase“ noch eine Verheißung ist, die von den Immobilienmaklern verschiedener Investoren in den Verkaufscontainern im staubigen Sand unter schicken Namen wie „Haus Granitz“ oder „Haus Lido“ beschworen wird, die Käufer sind da – dem Niedrigzins sei Dank. Geschichte wird da schnell zur Nebensache, die maximal noch den Schauer des Extraordinären auslöst.

„Man hasst es oder liebt es“, sagt eine junge Frau aus Stralsund. Mit ihrem Mann gehörte sie zu den ersten, die 2013 in eine Zweitwohnung in dem ehemaligen Naziseebad investiert haben. Damals für 3000 Euro Quadratmeterpreis. Inzwischen gehen die Preise bis zu 7000 Euro, für eine Penthouselage werden auch 10.000 Euro aufrufen. Die Investoren bekunden gute Geschäfte, denn wegen des Denkmalstatus gibt es ordentlich Steuersparoptionen.

Die Berliner Historikerin Katja Lucke beobachtet den Wandel mit Besorgnis. „Dass was passieren musste, ist klar“, sagt die Chefin des Dokumentationszentrums Prora, das seit 15 Jahren in Block 3 die kritisch-wissenschaftliche Aufarbeitung betreibt und bis 80.000 Besucher im Jahr anzieht. „Aber es kann nicht sein, dass von einer der größten Hinterlassenschaften der Nazis nur eine Ferienanlage ohne Geschichte bleibt.“ Auch die Zukunft des Dokumentationszentrums ist wie die von zwei anderen Geschichtseinrichtungen ungewiss. Mit bundesweitem Rückenwind kämpfen sie gegen den „Ausverkauf der Geschichte“ und die „totale Überformung des Komplexes“. „Authentische Fenster sollten erhalten bleiben, und es muss eine Bildungsstätte geben“, sagt Lucke.

Rüganer wollen „Schandfleck“ weg haben

Auf der Insel ist das Echo verhalten. Die Rüganer wollen endlich diesen „Schandfleck“ weg haben und streiten lieber über einen 104 Meter hohen Wohnturm, den ein Binzer Unternehmer in Prora bauen will. Allerdings gibt es neuen Zündstoff: Gerade hat der Landkreis Vorpommern-Rügen beschlossen, den letzten noch in öffentlicher Hand befindlichen Block 5 zu verkaufen. Dort ist eine Jugendherberge untergebracht, der Rest zerfällt, weil der Kreis kein Geld für die Sanierung hat. Nun soll es ein privater Investor richten. An den Verkauf der lukrativen Immobile sollen Bedingungen geknüpft werden, unter anderem sollen Erinnerung, Kultur und Bildung Platz finden. Es gibt mehrere Bewerber, auch Immobilienentwickler Busch ist darunter. „Jetzt“, sagt Historikerin Lucke, „müssen Land und Bund in die Verantwortung gehen.“

Bleibt die Frage, ob nicht nur die Käufer, sondern auch die Urlauber kommen. Denn anders als bei der Grundsteinlegung vor 80 Jahren konkurriert Prora mit Ferienzielen in der ganzen Welt. Und bislang ist außer der Traumlage noch nicht viel da. Treffpunkt sind ein Bäcker, ein Eiscafé und der Coffeeshop von Tino Springer. Für alles andere muss man nach Binz fahren. „Ich glaube an die Zukunft von Prora“, sagt Springer, der im Herbst einen Laden für Burger und Salat eröffnen will. So langsam werden weitere Veränderungen sichtbar. Die Strandpromenade wird verlängert, der Titel als Seebad ist beantragt. „Wir müssen das hinbekommen“, sagt Kurdirektor Gardeja. „Es ist eine Frage von Identität, das ist auf Rügen wichtig.“

• Tipps & Informationen

Unterkunft: z. B. Apartments Prora Solitaire ab 435 Euro/Woche, www. novasol.de; Jugendherberge Prora ab 25 Euro/Nacht, www.jugendherberge. de; Zur alten Post, Ferienwohnung ab 65 Euro, www.zur-alten-post.de.

Auskunft: www.ostseebad-binz.de

(Die Reise wurde unterstützt von Novasol.)