Baltimore. Zu Besuch in Baltimore, wo heute nur noch wenige Deutsche leben. Eine Hamburg Street gibt es in der Ostküsten-Stadt aber immer noch.

Hier oben ist es gut auszuhalten. Der Park ist dicht und grün. Schmale dreigeschossige Town-Häuser aus Rotklinkern oder rot, grün und hellblau ­gestrichen, bestrahlt von alten Straßenlaternen, verströmen Heimeligkeit: Hier schieben die Leute Holzfenster nach oben, wenn es sehr warm wird, oder im Herbst, um die kühle Frische aus dem nun rot-golden schimmernden Park herein zu lassen. Vom Federal Hill fällt der Blick auf die Innenstadt und den Hafen Baltimores, auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der Stadt im US-Staat Maryland.

450 Kilometer steht man hier vom offenen Meer entfernt und wähnt sich doch an dessen Ufern, im tiefsten Inland-Hafen Amerikas. Von Möwen umschwirrt, mit Krabben, Venusmuscheln und Austern reichhaltig versorgt, in ­unzähligen Tavernen oder in kultigen Top-Restaurants wie The Nickel Tap­house, wo Chef Jonathan Nicks 26 Sorten frische Austern, sieben Variationen „Roasted Oysters“ und fünf Arten ­frische Muscheln zu hundert verschiedenen Craft-Bieren auftischt. Und dann ist da auch noch dieses Straßenschild, das am Federal Hill, auf dem 4000 Patrioten 1788 die Unterzeichnung der US-Verfassung mit Salutböllern feierten, plötzlich auffällt: „Hamburg St.“ Hamburg Straße.

Gourmetland, Industrieland, Pro­blemland – all das ist Baltimore. Geschrumpft von einer Millionenstadt zu einer mittelgroßen mit 600.000 Einwohnern. Seit den 50er-Jahren getroffen vom Industriesterben wie einst das Ruhrgebiet, von weißer Stadtflucht und Rassenunruhen. Eine Ostküstenstadt in der Mitte Amerikas, nur fünfzig ­Kilometer nördlich vom Regierungssitz Washington DC und doch irgendwie vergessen. Anderseits: eine Stadt, die mit niedrigeren Mieten immer mehr junge Pendler aus Washington anlockt. Die sich nicht entscheiden kann, ob sie zu den Süd- oder den Nordstaaten Amerikas gehört und 20 Millionen ­Besucher jährlich anzieht.

Früher war jeder vierte Bewohner deutscher Abstammung

Baltimore ist eine Stadt mit bewegter Geschichte, die im Bürgerkrieg nach langem Hin und Her der Union treu blieb, dennoch Sklaven zu- und schließlich die größte Anzahl von ihnen in ganz Amerika freiließ. Bürgerrecht­lehrerin Harriet Tubman, die demnächst als erste Schwarze und Frau die 20-Dollar-Noten schmücken soll, und Jazzsängerin Billie Holiday gehörten zu deren Nachkommen; legendäre Söhne der Stadt sind Dichter Edgar Allan Poe, dessen Wohnhaus und Grab zu ­besichtigen sind, und Rocker Frank Zappa.

„Unser Problem ist nicht zu wenig, sondern zu viel Wohnraum“, sagt Ben Stone, 32, künstlerischer Direktor des „Arts und Entertainment Distrikts“. Dreiviertel der Altbauten in der herunter gekommenen Gegend waren verlassen, zögerlich ziehen neue ­Bewohner ein. Der weltbekannte ­26-jährige Graffiti-Künstler Gaia malt mit finanzieller Unterstützung des deutschen Goethe Instituts Tiger an Hauswände, Maya Hayuk gestaltet Nachbarschaftsparks: „Es geht darum, der Gegend wieder ein Gesicht zu ­geben“, sagen die Künstler.

Doch genügt die Pinselei? Auf der Hauptkreuzung der Gegend, über die täglich 10.000 Autofahrer brausen, nahmen 1968 nach der Ermordung Martin Luther Kings die landesweiten Proteste ihren Anfang. Für Unruhen scheint Baltimore Spezialist. Es mangele an Arbeitsplätzen, Gewerbe – keinesfalls an Sozialhilfe. Nach dem Tod der Stahl- und Autoindustrie sind Biotech-Firmen und die berühmte Johns Hopkins Universität mit 50.000 Angestellten die wichtigsten Arbeitgeber.

Hamburg Street verläuft drei Kilometer durch die Stadt

Aber nun auf zur Hamburg Street. Sie entpuppt sich auf ihrem etwa drei Kilometer langen Zickzack-Kurs durch Arm und Reich schnell als symbolisch für das krisengeschüttelte Baltimore, das in glorreicher Vergangenheit bis 1850 Amerikas zweitgrößte Stadt nach New York war. Vom Federal Hill schlängelt sie sich gen Westen, wo eine bodenständige Mittelklasse Austern und Spare-Ribs in der belebten Halle des Cross Market ersteht und leergegessene Austernschalen zum Recycling zurückbringt, ein ambitioniertes Projekt zur Revitalisierung der überfischten Chesapeake Bucht. Unter einer Hochtrasse geht’s zum Football-Stadion Camden Yards, die Gehsteige werden holpriger, gesäumt von defekten Werbeschildern. „Drug Free Zone“ warnt ein Schild vor dem Klinkerbau der George Washington Elementary School. „Transitional“, im Übergang, nennt Fahrer Dave Simmers die Nachbarschaft.

Wie die Hamburg Street zu ihrem Namen kam, die friedlich in einem kleinen Industriegebiet vor den Firmen­toren der „William T. Burnett Shipping Tank Systems“ endet, weiß auch Nicholas Fassenden, Präsident der „Society for the History of Germans in Maryland“ nicht, aber dass im 19. Jahrhundert jeder vierte Bewohner Baltimores deutscher Abstammung war, darunter Klavierlehrer, Schreiner, Zuckerhersteller. „Einige Hapag-Schiffe mit deutschen Einwanderern kamen aus Hamburg“, sagt der Historiker, „die meisten jedoch aus Bremerhaven.“ Die letzten drei deutschen Restaurants machten kürzlich dicht: „Zuwanderung aus Deutschland ist nicht mehr existent.“ Immerhin organisiert die „German Society of Maryland“ noch einen deutschen Weihnachtsmarkt und einen alljährlichen Picknick-Ausflug.

Die größte Henri-Matisse-Ausstellung der Welt

Dabei scheint der Puls Baltimores sich gerade zu erholen; die Bevölkerung der Hafenstadt nimmt erstmals wieder zu, in neue Hotels und Umbauten werden Millionen investiert, im Nobel-Stadtteil Mount Vernon eröffnete gerade eins der spektakulärsten Boutiquehotels der Ostküste. In den 14 Zimmern des The Ivy, einer eklektisch modernisierten Edelvilla aus dem 19. Jahrhundert, ging schon Kronkorken-Erfinder William Painter ein und aus, der 1892 hier den heute weltweit benutzten Bierflaschenverschluss austüftelte und eine Flasche von Baltimore nach Rio auf Testfahrt schickte. Der Verschluss hielt, Painter war ein gemachter Mann. Im Ivy gibt’s kein Check-in, keine Lobby, keine Trinkgelder. Der Gast kommt an, entspannt, den Rest erledigt ab 500 Euro pro Nacht die Kreditkarte. Zum Washington Monument, der Säule, die so ähnlich aussieht wie ihr großer Bruder in der Hauptstadt, aber eher gebaut wurde, kann er zu Fuß bummeln.

Oder er geht auf Museumstour, ­bestaunt die größte Henri-Matisse-Sammlung der Welt im Baltimore Museum of Modern Art. Erlebt im sehenswerten Industriemuseum am Hafen wie Austern in Dosen kommen, besucht zu Buchläden umgebaute Kraftwerke und Hafenspeicher im Inner Harbour oder verrückte Amateurs-Kunst im „Visionary Art Museum“. Marcel Marceau feierte in den hundertwasserschen Hallen seinen 80. Geburtstag, im Encantada-Museums­bistro kann man phantasievoll speisen. Bunt und schräg und surreal sind die Ausstellungen der Selfmade-Künstler, das Lebensmotto von Hollywood-Star Mae West prangt als Zitat an der Wand: „Too much of a good thing is wonderful“ – zuviel des Guten ist wunderbar.

• Tipps & Information

Anreise: z. B. mit Lufthansa und Condor über Frankfurt nach Baltimore.

Unterkunft: z. B. The Ivy, ab 500 Euro Ü/F, www.theivybaltimore.com

Essen: Austern, Muscheln und coole Atmosphäre im The Nickel Taphouse,
www.nickeltaphouse.com

Infos: www.baltimore.org

(Die Reise wurde von Condor und Capital Region USA unterstützt.)