Eisenstadt. Im österreichischen Burgenland glaubt man, Vergangenheit zu spüren. Alljährlich leben die alten Komponisten bei Festivals wieder auf.

Wer die steile Eisen­leiter erklimmt und den Turm bis oben hinaufsteigt, sollte schon einigermaßen schwindelfrei sein. Aber der Aufstieg wird belohnt, denn das Panorama, das sich hier aus 16 ­Meter Höhe eröffnet, ist wirklich atem­beraubend. Unter dem weiten Himmel breitet sich eine Landschaft aus, die Gegensätze harmonisch miteinander vereint: Im Nordwesten erstreckt sich der sanfte Höhenrücken des Leitha­gebirges, dessen Hänge vielfach mit Weinbergen überzogen sind, davor der Neusiedler See mit seinem breiten Schilfgürtel, während sich nach Osten hin der Blick in der Weite der ungarischen Tiefebene verliert.

Neue Nutzung für den ehemaligen Wachturm ungarischer Grenzer

Wir sind im Burgenland, das seit Alters her ein Grenzgebiet ist, eine ­Region des Übergangs, in der die letzten Ausläufer der Ostalpen auf die scheinbar endlose Steppe der Pannonischen Tiefebene treffen. Auch der grün gestrichene Turm, dessen Metallkon­struktion unter unseren Schritten manchmal bedenklich ächzt, ist Zeugnis einer Grenze, die freilich heute ­keine Bedeutung mehr hat.

Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs diente er den ungarischen Grenz­truppen als Beobachtungspunkt. Er stand in der Nähe des Ortes Fertöujlak, wo die Südspitze des Neusiedler Sees nach Ungarn hineinragt. Als es für die ungarischen Grenzer hier nichts mehr zu beobachten gab, bauten sie den Turm ab, verkauften ihn an die ­Österreicher, die ihn im Jahr 1994 als Aussichtspunkt in den grenzüberschreitenden Nationalpark Neusiedler See Seewinkel versetzten.

Der Ranger reicht mir einen Feld­stecher und zeigt in Richtung See. Ein Seeadler zieht dort seine weiten Kreise, lässt sich steil nach unten fallen, um gleich darauf mit wenigen Flügelschlägen wieder an Höhe zu gewinnen. „Jahrzehntelang haben wir ihn hier nicht gesehen, doch seit 2003 brütet er wieder regelmäßig. Bis zu 30 Seeadler verbringen den Winter hier“, sagt der Ranger und erzählt von vielen anderen Vögeln, die hier heimisch sind und sich zu unterschiedlichen Jahreszeiten gut beobachten lassen.

Schloss Esterházy ist das Wahrzeichen von Eisenstadt

Hier gibt es aber auch viele seltene Amphibien, Insekten und Säugetiere, wie Ziesel und Fischotter. Oder die europäischen weißen Esel, eine äußerst seltene Wildeselrasse, die nur in Österreich und Ungarn vorkommt. Wir entdecken sie gleich am Fuß des Aussichtsturms, wo die Albinoesel, die über ­lange Zeit vom Aussterben bedroht ­waren, friedlich grasen. Zutraulich und auch ein bisschen neugierig sind die hübsch anzuschauenden Grauschimmel mit dem merkwürdig weißen Fell, die hier in den Ausläufern der Puszta ausreichend schmackhafte Gräser, Kräuter und Früchte finden.

Rund 25 Kilometer Luftlinie weiter westlich liegt Eisenstadt jenseits des Sees. Mit knapp 14.000 Einwohnern ist die Landeshauptstadt ein eher beschaulicher Ort. Ihre architektonische Do­minante und zugleich auch das Wahr­zeichen ist Schloss Esterházy, der eins­tige Sitz der gleichnamigen ungarischen Adelsfamilie.

Direkt vor der prunkvollen Schau­fassade empfängt uns Walter Reicher, der Intendant der Burgenländischen Haydn­festspiele. „Das Schloss war für Haydn eines der wichtigsten Wirkungsstätten“, sagt Reicher, der uns in den Haydnsaal führt, der nicht nur durch ­seine Ausstattung mit prächtigen Wand- und Deckenfresken besticht, sondern aufgrund seiner Akustik zu den weltbesten Konzertsälen gezählt wird. „Haydn hat den Raumklang sehr geschätzt“, erklärt Walter Reicher. „Er hat hier ganz gut Geld verdient, aber im Vergleich zu der Reputation, die er als Kapellmeister dem Fürsten Esterházy verschafft hat, war es eher wenig.“

Haydn in Eisenstadt fast allgegenwärtig

Noch heute ist Haydn in Eisenstadt fast allgegenwärtig, nicht nur dank des Haydnfestivals, das alljährlich im ­September Musikfreunde aus aller Welt anlockt. In den Schaufenstern ­vieler Geschäfte und Cafés sind witzige Zitate mit Bezug auf den Musiker und Kom­ponisten zu lesen, der 1761 in die kleine Residenz kam, mehr als 40 Jahre hier wirkte und einen großen Teil ­seines Werkes schrieb. Zwölf Jahre lang hat er in dem barocken Haus am Rande des Schlossparks gelebt, das heute ein Memorialmuseum beherbergt.

Es ist ein malerisches Gemäuer mit Kräutergarten und nach historischem Vorbildern rekonstruierten Räumen, von denen manche so authentisch wirken, als könne der Herr Hofkapell­meister jeden Moment wieder zur Tür hereintreten. Dabei vermitteln die ­modern gestalteten Dauer- und Sonderausstellungen viel Wissenswertes über den Komponisten, der zu den wich­tigsten Vertretern der Wiener Klassik gehört.

Zweimal wird Franz Liszt gedacht – auf Ungarisch und auf Deutsch

Knapp 50 Kilometer entfernt von Eisenstadt in Richtung Süden geht es nach Raiding. Nie gehört? Das geht fast jedem so, dabei könnte man es eine klassische Bildungslücke nennen, denn immerhin stammt einer der ganz ­großen Komponisten des 19. Jahrhunderts aus diesem Ort. Wichtigste Sehens­würdigkeit ist ein ebenerdiges Häuschen mit schneeweißen Wänden und einer Widmung im Giebel über der Eingangstür, die für die Besucher aus dem nahen Ungarn ein wenig provo­kativ sein dürfte: „Hier wurde Franz Liszt 22. Okt. 1811 geboren. Diese ­Gedenktafel weiht dem deutschen Meistern das deutsche Volk.“

Glücklicherweise gib es noch ein zweites Portal mit einer zweiten Tafel, die die Ungarn in ungarischer Sprache dem ungarischen Komponisten Liszt Ferenc gewidmet haben. Auch hier zeigt sich die Grenzlage, denn bis ins Jahr 1921 gehörte Raiding noch zu Deutsch-Westungarn und die Ungarn reklamieren den Komponisten so selbstverständlich für sich, wie es Deutsche und Österreicher tun. In dem kleinen Museum, das schon 1911 hier eingerichtet wurde, informiert eine Ausstellung mehrsprachig über den Pianisten und Komponisten, dessen Weltruhm in auffälligem Kontrast zur Provinzidylle seines Geburtsortes steht.

Noch vor einigen Jahrzehnten zog es nur einige Enthusiasten und Liszt-Fans in den Ort. Doch kulturell hat die Gemeinde mit rund 800 Einwohnern inzwischen gewaltig aufgerüstet, was gleich neben dem Liszt-Geburtshaus nicht zu übersehen ist.

Dort steht seit 2006 ein Konzerthaus, dessen schlichte und funktiona­listisch anmutende Architektur einen modernen Akzent setzt, ohne das historische Gebäude damit zu beschädigen. 600 Plätze fasst das von dem renommierten Rotterdamer Atelier Kempe Thill entworfene Konzerthaus, dessen ganz in Holz gehaltener Saal über eine vorzügliche Akustik verfügt. Über das Jahr verteilt findet hier jeweils im März, ­Juni und im Oktober das Liszt-Festival statt, bei dem die Musik des „Hausherrn“ natürlich im Mittelpunkt steht, führende Musiker und Sänger aus aller Welt aber auch andere Komponisten interpretieren.

Raiding soll zu einem Ziel für Architekturfans werden

Vor der Glasfassade des Konzerthauses treffen wir Roland Hagenberg, der uns an den Rand des Ortes führt, wo wir vor einem Haus stehen, das ­bodenständig und exotisch zugleich anmutet. „Es ist das Storchenhaus des ­japanischen Stararchitekten Terunobu Fujimori“, sagt der Autor und Projektentwickler, der seit mehr als 20 Jahren überwiegend in Japan lebt und arbeitet. Hagenberg hat Fujimori ins Burgenland geholt, damit er hier ein Konotori-an baut, wie Gästehäuser auf Japanisch heißen. Fünf mal fünf Meter misst die Grundfläche dieses Hauses mit dem steilen Schilfdach und den weißen Wänden, die mit verkohlten Brettern überzogen sind. „Die Japaner nennen das Holz Yakisugi, es wird traditionell als Baumaterial verwendet, weil es vor Insektenbefall schützt und die Brandgefahr mindert“, sagt der Autor und erzählt von seinem Kunstprojekt, für das Fujimoris Storchenhaus nur den Auftakt bilden soll.

Wenn alles gut läuft, werden so ­berühmte japanische Architekten wie Hiroshi Hara, der schon jetzt mit einer Raststation „Drei Reisende“ vertreten ist und ein zweites Haus plant, Raiding auch zum spannenden Ziel für ­Architekturfans machen. Sieben Meter überragt ein Eichenstamm das Storchenhaus, auf dem sich längst einer der schwarz-weißen Schreitvögel ein­gerichtet hat. Bald wird er mit vielen anderen Störchen aus dem afrika­nischen Winterquartier ins Burgenland zurückkehren.