Irlands Hauptstadt ist ein Ort, der sich mit den Jahren kaum zu ändern scheint. Doch wer genauer hinsieht, entdeckt auch sehr moderne Facetten.

Vielleicht muss man etwas weiter ausholen, vielleicht kann man diese Stadt ja tatsächlich nur dann verstehen, wenn man für einen Augenblick in der Zeit zurückgeht. Nicht bis in die Epoche der Wikinger, die Dublin einst gegründet haben, und auch nicht zu den Normannen oder den Engländern - bloß bis ins Jahr 1988, das sollte genügen. Damals feierte Irlands Hauptstadt ihren 1000. Geburtstag. 1000 Jahre! Ein Millennium! Anderswo auf der Welt hätten die Vorbereitungen für so ein Ereignis schon Jahre zuvor begonnen. In Dublin aber plante man - nichts. Überhaupt nichts. Die Jahre verstrichen und dann die Monate und am Ende auch die Wochen, und nichts geschah. Als es dann völlig unversehens da war, das große Jubiläumsjahr, hängte man schnell ein paar Fahnen auf und beeilte sich, die eine oder andere Sonderausstellung fertig zu bekommen, aber sonst: passierte nicht viel. Das heißt: Es passierte all das, was auch sonst hier passiert, jeden Tag in dieser stolzen Stadt, und jeden Tag aufs Neue.

Morgens taucht die Sonne für kurze Zeit alles in Gold, bevor gegen Mittag dann meist die ersten Regenwolken aufziehen. Doppeldeckerbusse stehen geduldig im Stau, hinten am Horizont sieht die elegante Samuel Beckett Bridge aus wie ein Schiff, das Segel setzt. Die Obstverkäuferinnen auf dem Moore Street Market begrüßen jeden Kunden wahlweise mit "my dear" oder "my love". Auf dem Rasen des Trinity College büffeln Studenten für ihre Prüfungen, drüben am Merrion Square präsentieren die Touristenführer im schnellen Stakkato die literarischen Größen der Stadt, "YeatsShawO'CaseyBeckettSwiftWildeStokerBehan!".

Die Liffey fließt träge, über ihr malen die Möwen perfekte Achten in den Himmel. Mittags essen die Dubliner ihr Sandwich auf einer Bank in St. Stephen's Green, und anschließend trifft man sie im Pub, wo sie über das Leben an sich sinnieren und über den Lauf der Zeit. Was sind schon 1000 Jahre? Was ist schon ein Tag? Und was bitte schön ist überhaupt so wichtig an der Zeit? Von der habe der Herrgott nun wirklich genug gemacht, weiß man in Dublin: Der Zeit müsse man nicht so viel Aufmerksamkeit schenken.

Vielleicht wird man so, wenn man in einer Stadt aufwächst und lebt und alt wird, von der eine Aura der Zeitlosigkeit ausgeht.

+++Aufregend und lecker: Schlemmen in Dublin +++

Dublin ist Dublin ist Dublin, und die 24 Jahre zwischen nonchalant ignorierter Millenniumsfeier und Gegenwart haben daran trotz Celtic-Tiger-Booms und anschließenden Finanzcrashs nicht wirklich etwas geändert. Es gibt Ecken, in denen man den Eindruck hat, die Zeit halte die Luft an - und das schon seit ein paar Jahrhunderten. Dublins Kirchen atmen Geschichte, seine Universität sieht aus, als käme gleich Jonathan Swift in Perücke und Gehrock aus der Tür, und manchmal, wenn man in der richtigen Gemütsverfassung in den stillen gregorianischen Straßenzügen unterwegs ist, fühlt man sich, als sei man in eine andere Ära hineingelaufen.

Vor allem in der Abenddämmerung kann einem das passieren, in jenen Stunden, in denen Dublin sich verwandelt, nicht mehr richtig in der Gegenwart festhalten kann, langsam in der Zeit zurückrutscht. Dann werden Straßen wie die Fishamble Street zum Palimpsest, auf dem die Jahrhunderte übereinander geschichtet sind wie die Häute einer Zwiebel, und man ahnt, dass in dieser Stadt nichts wirklich verloren geht, jedenfalls nicht, solange ihre Türme und Mauern Wache stehen. Dann ist es, als schere sich die Zeit hier einen Teufel um lineare Vorschriften. Als habe sie kleine Paralleluniversen eröffnet, aus denen die Epochen hinaus- und ineinandersickern. Und dann schlendert man zwei, drei Ecken weiter und entdeckt postmodern designte Bars und Restaurants, Läden mit avantgardistischer Inneneinrichtung oder ein Café, in dem Nachwuchsliteraten vor ihren Laptops sitzen und am künftigen Ruhm arbeiten. Mal ganz abgesehen davon, dass man sich hier selbst ziemlich alt vorkommen kann: Über die Hälfte der Dubliner ist jünger als 30. Ein Drittel ist zwischen 20 und Mitte 30.

Es ist dieses absolut selbstverständliche Neben-, nein: das Miteinander von Vergangenheit und Gegenwart, das diese Stadt so besonders macht. Das Harmonieren von Alt und Jung, von 400-jährigen Wirtshäusern mit Champions-League-Übertragungen auf gewaltigen Flachbildschirmen, von altehrwürdigen Bibliotheken und gestern eröffneten Klubs. Manchmal sieht Dublin so aus, als habe es ein glücklicher Zufall absolut unbeschädigt über die Jahrhunderte hinweg gerettet und als reibe es sich jetzt, just in diesem Moment, die Augen und frage sich, in welcher Epoche es denn gerade gelandet sei. Und dann fährt man zehn Minuten später am neuen National Convention Centre mit seinen tollkühn illuminierten Glasfassaden vorbei und hat den Eindruck, Irlands Hauptstadt befinde sich auf dem Sprung in einen Science-Fiction-Roman. Doch, das stimmt: Man kann schon mal die Zeit verlieren in dieser Stadt. Solche Dinge bespricht man am besten bei einem Pint Guinness, dem Lebenselixier Dublins. Und am allerbesten in einem Pub wie dem O'Donoghue's in der Merrion Row, einem Labyrinth aus verschachtelten Räumen, in denen man in kleinen Nischen und Abteilen sitzen kann, die durch Glas- und Holzwände voneinander abgetrennt sind. In Hongkong oder Miami oder Recklinghausen ist der Irish Pub ja längst zur Partyzone verkommen - zu Hause in Irland aber ist er den größten Teil des Tages noch das, was er schon immer war: ein Rückzugsort vor dem Unbill des Alltags. Eine Höhle, eine Insel. Eine Heimat auf Zeit für Virtuosen der Ziellosigkeit, philosophierende Melancholiker und Heilige Trinker, die ihr Guinness hinunterstürzen wie ein Stück Traurigkeit. Nach Geschäftsschluss kommen dann die Ausgelassenen, die Partypeople, die sich den Bürofrust von der Seele reden wollen oder den Ärger über die Sparmaßnahmen der Regierung. Und noch später all jene, denen überhaupt die große Last der Welt auf den Schultern liegt. Die allein in der Ecke sitzen, Whiskey zum Guinness trinken und über den Rand eines großen, frischen Kummers in die Leere blicken. Und ganz am Ende kommt ein Musiker und singt. Mehr für sich als für die Handvoll anderer Gäste, die dann noch da sind.

+++Mit einem PS durch Irland+++

Dublin liegt am Meer, das vergisst man ja gerne, und in weniger als einer halben Stunde ist man weit weg von der Stadt an der Küste. Zwischen Arklow und Wicklow gibt es die schönsten Strände des irischen Südwestens, lange, fein ziselierte Sicheln, über die man Richtung Horizont schlendern und Muscheln suchen kann. Irgendwann fräst sich die Sonne einen Spalt in den Himmel. Der Strand glitzert, die See funkelt.

Auch der berühmteste Ort des Landes ist nicht weit entfernt: Der Hill of Tara war bis ins elfte Jahrhundert hinein Sitz der Hochkönige, Nabel der irisch-keltischen Welt. Viel zu sehen gibt es nicht, ein paar seltsame Hügel und die Reste eines Grabes aus der Steinzeit; dennoch geht von dem Platz eine eigentümliche Ausstrahlung aus. Man kann über die Wiesen auf eine kleine Anhöhe laufen, und dann steht man da, spürt die Macht der Vergangenheit. Man versucht, seine Gefühle in Worte zu fassen, aber irgendwie funktioniert das nicht, also lässt man es und schlendert zu seinem Cabrio zurück. Auf dem Weg in die Stadt denkt man an keltische Druiden und normannische Eroberer, und die Epochen ziehen einem so schnell durch den Kopf wie die Landschaft draußen vorbei. Irgendwann beschließt man, es wie die Dubliner zu machen: Die kümmern sich auch nicht um die Zeit. Die sind auch im Hier und Jetzt zu Hause. In der Hotelgarage gibt es einen Stellplatz. Und ein paar Schritte weiter mit Sicherheit einen Pub.

Übrigens hätte Dublin sein Millennium gar nicht zwingend 1988 feiern müssen: Es gibt hier so viele widersprüchliche archäologische Funde, dass man den 1000. Geburtstag der Stadt auch schon 1972 hätte begehen können. Oder erst 2018, auch für dieses Datum gibt es entsprechende Belege. Vielleicht versuchen sie es ja noch einmal. Und packen die Zeit am Schlafittchen, dieses eine Mal.