Der Nordwesten Namibias ist kaum erschlossen. Es gibt Raubtiere und eine übermächtige Landschaft. Eine Campingsafari, die durch's Mark geht.

Ein bisschen fühlt man sich wie in einer verstopfen Sanduhr: Oben Sand, unten Sand, und die Zeit scheint stillzustehen.

Wie lange rumpeln wir jetzt schon im Land Rover durch die Wüste? Drei Stunden? Fünf? Wie viele Kilometer haben wir hinter uns? Wann erreichen wir unseren Zeltplatz für die nächste Nacht? Typische Fragen aus der Zivilisation, die im Damaraland im Nordwesten Namibias niemanden interessieren. "Ihr Weißen habt die Uhren, wir Schwarzen haben die Zeit", sagt Simson Uri-Khob und schaut weiterhin geduldig durch sein Fernglas. Der 48-jährige Wildhüter sucht nach Nashörnern. Das macht er seit 20 Jahren, kaum einer liest Spuren so zuverlässig wie er.

Wo wir nur einen verwehten Abdruck im Sand sehen, entziffert der Namibier eine ganze Geschichte: in welche Richtung das Tier marschiert, wie viel es ungefähr wiegt, ob es schnell, langsam oder verletzt ist. Das größte Hindernis bei Safaris sei die Ungeduld, erklärt Simson: "Raubtiere haben mehr Ausdauer als Menschen. Wir können nicht warten, wollen sofort etwas sehen und werden schnell nervös."

Kein Wunder, wenn in der Nacht einen selbst und das Gebrüll von gefühlt 50 Löwen und Hyänen nur eine millimeterdünne Zeltwand trennt. Mindestens 300 Meter entfernt seien die Kätzchen doch noch gewesen, sagt Simson besänftigend. Und dass wir keinen Schritt nach Einbruch der Dunkelheit alleine und ohne Lampe gehen dürfen, hat nur etwas mit der Versicherung zu tun? Nein, sagt Simson lachend, natürlich sei es sehr gefährlich. "Das hier ist die Wildnis, keine Kreuzfahrt." Und das Leben ist kein Ponyhof, verstanden.

Seit drei Tagen sind wir auf Safari und haben in dieser Zeit mehr gelernt, als das Fernsehen selbst durch tägliche Wiederholungen von "Hatari", "Daktari" und "Der mit dem Wolf tanzt" je vermitteln könnte. Die Regeln im Busch sind ungewohnt, umso bemerkenswerter, dass sich alle sofort daran halten: 1. Nie ohne feste Schuhe unterwegs sein und Steine nicht mit der Hand umdrehen, denn wenn dich etwas pikst, ist es nicht immer das Gras. 2. Die Gruppe nicht verlassen. 3. Wir essen nicht, was wir sehen. Und 4. gilt auch in Namibia die bekannteste aller Safariregeln: "Whatever you do, don't run!" Daran erinnerte sich auch Simson, erzählt er, als ihm ein Spitzmaulnashorn einmal zu Nahe kam. Die Tiere sind extrem empfindlich. Fühlen sie sich gestört, werden die Kolosse ziemlich schnell. "Und es sieht nicht gut aus, wenn eine Tonne Kampfgewicht plötzlich mit 50 Kilometern die Stunde auf dich zustürmt", sagt Simson. Anstatt wegzulaufen, kletterten Simson und sein Kollege auf einen Baum. Das Nashorn tobte unten hin und her, oben beruhigten sich die Männer, indem sie mantraartig "Don't worry!" wiederholten. In der Verzweiflung tauften sie das Tier auf diesen Namen und begannen zu jaulen wie Hyänen. Schließlich zog der Bulle genervt ab.

Genau dieser Kerl hat uns, während wir so nett plaudern, schon längst im Visier. Aber wir sind zu beschäftigt damit, Bierdosen der Marke Windhoek zu öffnen. Es ist 18 Uhr und Zeit für die Sundowner-Pause. Die Gruppe stößt gerade auf einen weiteren außergewöhnlichen Tag "mitten im Nirgendwo" an, da sagt Simson: "Ins Auto. Sofort. Leise! Don't worry ist da." Ein paar Meter entfernt steht der graue Riese, er schnaubt, senkt sein Horn und beobachtet, wie wir hektisch in den Wagen flüchten und dabei Bier und Kameras balancieren. Ginge jetzt ein Blitzlicht los, würden wir plattgemacht. Die Natur macht dennoch auf romantisch: Genau hinter "Don't worry" geht die Sonne unter. Das Steppengras umrahmt seine stattliche Erscheinung, und man hat den Eindruck, vor dem gefährlichsten Ölgemälde der Welt zu stehen. Dem Protagonisten scheint sein kunstvoller Auftritt zum Glück zu reichen; nach ungefähr zehn für uns nahezu atemlose Minuten zieht er von dannen.

18 Jahre ist "Don't worry" alt, knapp 50 könnte er werden, aber er hat zwei große Feinde: den Löwen und den Menschen. Nashörner zählen zu den meistgejagten Säugetieren der Erde. Zurzeit werden in Afrika so viele Tiere gewildert wie schon lange nicht mehr. Der Save the Rhino Trust, für den Simson arbeitet, versucht dagegen anzugehen. Die durch Spenden finanzierte Organisation hat 20 Mitarbeiter, die jeden Tag in dem riesigen Gebiet patrouillieren. Sie erkennen jedes Nashorn im Damaraland auf die Entfernung von 200 Metern und kümmern sich, falls es einem von ihnen schlecht gehen sollte. Die genau Zahl der Rhinos soll geheim bleiben, um nicht noch mehr Jäger und Wilderer nach Namibia zu locken, denn der Kampf Raubtier gegen Raubmensch scheint schon jetzt verloren. Die Wilddiebe werden finanziert von der chinesischen Mafia. Mit Hubschraubern rücken sie an, schießen bereits im Anflug Betäubungspfeile auf das Opfer ab, landen, schlagen das Horn mit dem Beil ab oder sägen es mit Motorsägen aus dem Kopf und rücken wieder ab. Das Tier verblutet, und die Wilderer kassieren um die 30 000 Euro pro Horn. Die ganze Grausamkeit beruht auf der falschen Annahme einiger Menschen in Südostasien und Fernost, dass Nashorn-Mehl ein Wundermittel gegen Impotenz, Krebs und andere Krankheiten sei. Dabei besteht das Horn nur aus Keratin, der gleichen Grundsubstanz von Fingernägeln und Haaren. Und wer würde schon ernsthaft behaupten, dass Fingernagelkauen gegen Krebs hilft?

Zum Wilderer-Irrsinn kommt der Jagdtourismus. Vor allem aus Amerika, Russland und Spanien fliegen Typen zum tierischen Trophäensammeln ein: Kudus, Oryxantilopen, Löwen oder Elefanten. Dabei zielen sie nicht auf die kleinen oder schwachen Tiere, sondern erlegen bevorzugt die Prachtexemplare. "Damit schießen sie auch den besten Genpool ab", ärgert sich Jockel Grüttemeyer von Namibia Tracks & Trails. "Für die Großwildjäger spielt Geld keine Rolle. So wie sie sich zu Hause einen Ferrari kaufen, schießen sie sich hier den besten Bullen."

Jockel ist der Guide auf unserer Abenteuerwoche, wobei das Wort Guide es nicht annähernd trifft: Er ist Kommandant, Fahrer, Tierexperte, Psychologe, Arzt, Koch und Stimmungskanone. Einmal im Jahr ist der deutschstämmige Namibier beim Karneval in der Küstenstadt Swakopmund ganz vorne mit dabei. Mit einigen Vereins-Freunden reist er regelmäßig zum Karneval nach Köln oder Aachen, danach gerne noch zu einem Spiel auf Schalke.

Jockels Urgroßvater kam mit der deutschen Schutztruppe nach Südwest-Afrika, wie die Kolonie bis 1919 hieß. Zuvor hatte er schon versucht, als blinder Passagier auf einem Kohledampfer nach Amerika zu reisen, aber das misslang, und so wurde das neue Ziel eben Afrika. "Von ihm habe ich den Pioniergeist geerbt", sagt Jockel. Auf seiner Basecap steht "Where the Road ends, the Journey begins", und dementsprechend allergisch reagiert er auf Massentourismus. "Es ist ein Unterschied, ob man mit 20 Leuten im Bus durch den Krügernationalpark fährt oder eine authentische Safari erlebt." Die Gegend im Nordwesten des Landes sei zu sensibel, zum Glück aber auch zu unwirtlich und zu hart, als dass sich viele Selbstfahrer bis hierher wagen würden. Manche vom Typ Indiana Jones natürlich trotzdem, aber die überschlagen sich dann auf den Sandpisten oder campen in einem Flussbett und werden am nächsten Morgen von einer unerwarteten Welle Wasser geweckt.

Wer sich vorbereiten möchte, kann ins Musical "König der Löwen" gehen, einen Tag bei Hagenbeck verbringen oder mit den Verkäufern von Globetrotter über die ideale Schlafsackdicke und den Vorteil von Kopflampen diskutieren. Bringen wird das alles nichts, und das ist das Tollste an der Sache: Diese Reise kann nicht geplant werden. Das Damaraland ist das Unerwartete, das Unbekannte, das Unberührte. Es gibt kaum Infrastruktur; die Wüste, das Buschland und die Tafelberge bilden eine Szenerie, in der sofort "Jurassic Park 4" gedreht werden könnte.

An vieles gewöhnt man sich erstaunlich schnell: An die Buschtoilette (ein Spaten, ein Loch und ein Feuerzeug, um das Toilettenpapier anzuzünden), an die Dusche (ein Beutel Wasser, aufgehängt an einem Ast), an die Temperaturunterschiede (acht Grad nachts, 35 Grad am Tag) und an das Schönheitsideal der Ureinwohner (alle Himbas schlagen sich mit einem Stein die vier unteren Vorderzähne aus).

Anderes braucht Zeit: die Abhängigkeit von den Guides, ohne deren Wissen und Erfahrung man optimistisch geschätzt noch 48 Stunden überleben würde. Wer kann schon Hilflosigkeit ertragen? Eine weitere Schwierigkeit für Wichtig-wichtig-Worker wie uns ist das permanente Funkloch. Fünf Tage ohne Anschluss an die Außenwelt, schon fühlt sich mancher gekündigt vom Arbeitgeber und von der Familie. "Das ist okay", sagt Jockel. "Aber es gibt immer wieder Strategen, die sich im Camp ernsthaft nach WiFi erkundigen." Das sollte man genauso unterlassen wie das Fragen nach einem Fön oder der Klimaanlage, was vor allem Amerikanern ab und an passiert.

Die größte Herausforderung allerdings ist die Weite. Wenn gerade keine Giraffe durch die Gegend stakst, keine Wüstenelefanten den Weg kreuzen, keine Zebras oder Löffelhunde herumrennen, dann bleibt der Blick auf eine scheinbar unendliche Landschaft. Plötzlich erwischt einen das Gegenteil von Platzangst, ein seltsames Gefühl der Beklemmung ob der Tatsache, in dieser schier übergroßen und mächtigen Natur unterzugehen. Ein Aufenthalt im Damaraland macht demütig. Plötzlich haben Dinge wie der Wasserkanister, ein funktionierendes Auto oder das Lagerfeuer am Abend einen unermesslichen Wert. Manche Besucher behaupten sogar, sie seien als bessere Menschen zurückgekommen. "Jetzt weiß ich erst wieder, was ich wert bin", sagte einmal ein bekannter deutscher Banken-Boss nach fünf Tagen Safari zu Jockel: "Nichts."