Flucht-Dramen, peinliche Propaganda und der West-Gemüsegarten im Ost-Sektor - eine Videobustour zu den historischen Schauplätzen.

Der Mann rennt. In Richtung Freiheit, hofft er. Und sprintet schneller, unter der Eisenbahnbrücke am Humboldthafen durch. "Halt, stehenbleiben!" Der Mann springt in den Spandauer Kanal. Drei Schüsse peitschen vor ihm ins Wasser. Der 24-Jährige schwimmt hektisch weiter, aufs rettende Westufer zu. Die nächsten beiden Salven treffen ihn. "Günter Litfin ist das erste Opfer des Schießbefehls, getötet von Grenzern am 24. August 1961", erzählt Arne Krasting, Erfinder und Präsentator der Berliner Videobustouren.

Der Bus steuert historische Schauplätze an. Zeitgleich mit dem aktuellen Windschutzscheiben-Ausblick sind auf Bildschirmen Fotos oder Filme von Ereignissen zu sehen, etwa von der Pressekonferenz, auf der Walter Ulbricht gut einen Monat vor der Abriegelung Ost-Berlins noch mit Kieks-Stimme log: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten."

Zum ersten erschossenen Mauertoten Litfin gibt es nicht nur das Foto seiner Bergung, sondern auch gelungene Überblendungen zwischen Ansichten der nahegelegenen Invalidenstraße damals und heute. Und immer mit Gegenwartsbezug: "Sehen Sie, die verrosteten Gitter vor den Erdgeschossfenstern stammen noch aus Mauerbau-Zeiten", erklärt Krasting und führt seine Besucher in die Kieler Straße zu einem der wenigen noch erhaltenen DDR-Wachtürme. Früher ein allein und bedrohlich aufragender Betonquader, steht er nun fast geduckt zwischen rosaroten Wohnblocks. "Aber nur, weil Jürgen Litfin in verbissenem Kampf gegen die Stadt Berlin durchsetzte, dass der Turm bleibt und als Gedenkstätte an seinen ermordeten Bruder Günter erinnert."

Der "antifaschistische Schutzwall" ist während der Tour zunächst nur auf den Monitoren zu sehen. Kein Wunder, denn die 168 Kilometer lange Mauer in und um Berlin wurde fast vollständig abgerissen. Arne Krasting weiß, wo sie noch steht, zeigt seinen Gästen aber nicht nur touristische Wallfahrtsorte wie das schrill bemalte Mauer-Monument "East Side Gallery", sondern auch kaum bekannte Mauer-Reste. Den an der Liesenstraße etwa, wo das im DDR-Grenzer-Jargon sogenannte "vordere Sperrelement feindwärts" damals wie heute Teil einer Friedhofsmauer ist.

An den Verlauf des "pioniertechnischen Ausbaus der Staatsgrenze der DDR zu West-Berlin" erinnert heute ein wenige Zentimeter breites Band aus Pflastersteinen, das den Mauerverlauf nachzeichnet - die Narbe Berlins. "Aber nur aus West-Sicht", mäkelt Hagen Koch, denn für DDR-Bürger habe die Mauer Hunderte Meter ostwärts gestanden, schließlich sei da zwischen Ost- und West-Wall der Todesstreifen gewesen. "Koch, ein Mann mit ganz besonderer Geschichte", erzählt Arne Krasting: Als Kartograph Ulbrichts legt er 1961 den Mauerverlauf fest und pinselt ihn am Checkpoint Charlie mit weißer Farbe auf die Straße. 1990, Jahre nach seiner Abkehr von Stasi und Militär, ist Koch "Mauer-Abriss-Beauftragter" der letzten DDR-Regierung und bis heute Kurator eines Mauer-Archivs.

An der Bernauer Straße musste er mehrere 100 Meter stehen lassen - als Gedenkstätte. Denn kaum irgendwo anders passierte so viel Mauer-Geschichte, erfahren die Teilnehmer der Tour. Regine Hildebrandt, nach der Wende SPD-Sozialministerin, wohnte hier und brachte es auf den Punkt: "Wenn de aus'm Fenster kiekst, biste mit'm Kopp im Westen und mit'm Hintern im Osten." Eine Erfahrung, die Monika Schaar bereits am 8. September 1961 auf tragische Weise macht: Sie heiratet auf dem Bürgersteig der Bernauer Straße, also im Westen. Ihre Mutter lässt aus dem 1. Stock des bereits verbarrikadierten Hauses, also aus dem Osten, den Hochzeitsstrauß und Geschenke an Seilen herunter. Die Versöhnungskirche und angrenzende Gebäude an der Bernauer Straße werden für den Mauerbau gesprengt, Tote auf dem Friedhof umgebettet, damit der Todesstreifen angelegt werden konnte. Er ist 60 Meter lang erhalten geblieben, mitsamt Patrouillenpfad und Wachturm. "Der stammt allerdings aus einer Kaserne und wurde bei Ebay ersteigert", sagt Arne Krasting schmunzelnd.

Den ungläubigen "Ich-glaub-ich-seh-nicht-recht-Effekt" erzeugen immer wieder die Filmclips während der Tour: "Unser Staat ist auf Draht" titelt das "Neue Deutschland" am 14. August 1961 zu Bildern einer mit zunächst provisorisch mit Stacheldraht verbarrikadierten Grenze. Zwei Tage später trällert ein Männerchor zu Glockenspiel und Pauken-Rhythmus seinen schmissigen Mauer-Schlager im DDR-Radio: "Unsere duften Jungs stehen auf Wacht / und hüten das eig'ne Haus / unsere duften Jungs sind der Stolz der Arbeitermacht / mit Schmarotzern und Schiebern ist es aus!"

Albert Norden, damals SED-Propagandachef, bläut seinem Volk ein, Republikflüchtlinge seien Verräter - jeder Schuss auf sie rette Tausenden von DDR-Bürgern das Leben und Millionen Mark an Volksvermögen. Zur Überraschung der ergriffenen Tour-Teilnehmer meldet sich Busfahrer Roland Wegner zu Wort - jedoch nicht mit der Frage nach dem nächsten Stopp, sondern seiner Meinung: "Oine ziemlisch einseit'sche Dorstellung der domolischn Vohäldnisse" sei diese Rundfahrt, schließlich sei nicht alles schlecht gewesen in der DDR. Arne Krasting schaltet um vom Reiseleiter-Plauderton in strengen Basta-Modus: Er biete spezielle Touren zum DDR-Alltag mit differenzierter Darstellung desselben an, aber an Mauer und Schießbefehl gebe es für ihn nichts zu relativieren.

Über Prenzlauer Berg und Alexanderplatz erreicht der Videobus den Bethaniendamm in Kreuzberg und damit ein windschiefes, zweistöckiges Holzhaus Marke Villa Kunterbunt. Es steht auf einem spitzwinkligen Flecken Erde, 500 Quadratmeter groß und einst von zwei der drei Seiten durch die Mauer begrenzt. Zugemüllt war es mit Abfall und Schrott, bis der gegenüber wohnende Türke Osman Kalin im Jahre 1983 fragt, wem das Stück Land eigentlich gehöre. "Niemandem", sagten die Nachbarn. Also säubert er es, baut Süßkartoffeln, Tomaten und Kohl an. Bis einige Monate später zwei Soldaten des Grenzregiments 33 durch eine Eisentür in der Mauer in Osmans Garten treten und versuchen, ihm klarzumachen, dass er auf DDR-Gebiet gärtnert. Das Landstück war beim Mauerbau ausgespart worden, um Beton zu sparen. "Komander", antwortete der wackere Anatole dem Soldaten, "kann nicht sein DDR, bin ich schon zu lange hier!" Die beiden Soldaten ziehen genervt ab, und Osman Kalin bekommt 1984 tatsächlich nicht nur eine Nutzungsgenehmigung des Arbeiter- und Mauernstaats, sondern bald darauf auch jahrelang Weihnachtspakete aus Ost-Berlin. Vom "Komander". Wiedergesehen hat er ihn nach dem Mauerfall nicht.