Der Damm zwischen Sylt und dem Festland ist ein technisches Meisterwerk und ein Symbol für den erfolgreichen Kampf der Menschen mit der Natur.

Niebüll/Westerland. „Und dann kam, worauf alle gewartet hatten: stand weit im Süden mitten aus der unruhigen Wasserfläche eine graue Wand auf, eine wälzende Woge, und gleichzeitig sprang der Wind, der bisher aus Westen gekommen, nun auf Südwest zurück und stürzte mit der springenden Flut zugleich sich auf Damm und Deich. Ein Donnern, Krachen, Brausen füllte die Luft.“

Nichts erinnert in diesem frühsommerlichen April 2012 an jenen 31. August des Jahres 1923, an dem, wie die Schriftstellerin Margarete Boie in ihrem Roman „Dammbau“ erzählt, der Hindenburgdamm „als Ganzes“ vernichtet wurde. Majestätisch liegt er vor uns. Zwei Eisenbahngleise führen hinaus ins Sylter Watt, bereit, hunderte Tonnen schweren Zügen Richtung und Halt zu geben. Rechts und links krault die Flut den Fuß des Dammes, der sich fast sieben Meter über den Meeresgrund erhebt. So gewaltig, so unzerstörbar scheint er, dass es großer Fantasie bedarf, sich die eingangs zitierte Untergangsszene vorzustellen.

Hansi Albertsen sitzt im Führerhaus seiner Diesellokomotive auf der rechten Seite. Seine mächtigen, von jahrelanger Rangierarbeit gezeichneten Hände halten locker das Steuerrad, mit dem er den Zug langsamer oder schneller fahren lassen kann. 100 Stundenkilometer zeigt das Tachometer an. „Der Autozug darf nur 100 fahren, Personenzüge 120“, erzählt Albertsen. Man muss zwei Mal hinschauen, so gemächlich wirkt die Geschwindigkeit von hier oben, gut zwei Meter über den Gleisen.

Der 2500 Pferdestärken liefernde Dieselmotor hinter uns grummelt vor sich hin. Gerade eben hat er - im Verbund mit einer zweiten Lok - den 638 Meter langen und 1200 Tonnen schwere Autozug den Deich nordwestlich von Klanxbüll „hinaufschleppt“. Die Tachonadel tanzte um die 80 herum. Jetzt, wo der Zug hinaus auf's Meer fährt, gewinnen wir wieder an Fahrt. Es ist, als bliebe die Festlandswelt mit all ihren Sorgen und Befindlichkeiten hinter uns zurück. Hier, wo sich - wie Margarete Boie schreibt - einst die Flutwellen trafen, „von Norden her durchs Lister, von Süden her durchs Hörnumer Tief“. Die Insel Sylt ist im Morgendunst schon zu erahnen. Aber noch liegen gut Kilometer vor uns.

Am 1. Juni 1927 fährt der erste offizielle Zug über den Damm

Neun Kilometer künstlich aufgeschüttetes Land, an seinem Fuße etwas mehr als 50 Meter und oben, an der Krone, elf Meter breit. Dem Meer entrungen, in einer Zeit, in der Deutschland die Not groß ist, die politischen Verhältnisse verworren sind und das deutsche Geld fast nichts taugt. In einer Zeit, in der dieses Land alles brauchte, nur keinen Damm, der eine Insel mit gut 3000 Einwohnern durch ein Eisenbahngleis mit dem Festland verbindet. Und doch: Am 1. Juni 1927 fährt der erste offizielle Personenzug mit Reichspräsident Paul von Hindenburg an Bord über diesen Damm und ebnet damit dem Fortschritt den Weg auf die „Königin der Nordsee“.

Auch wenn in diesen Tagen der Eröffnung des Damms vor 85 Jahren gedacht wird, so hat das Bauwerk eine Vorgeschichte, dessen Beginn uns in die Mitte des 19. Jahrhunderts versetzt. Über Jahrhunderte nun schon leben die Bauern der Insel von der karge Erträge abwerfenden Landwirtschaft. Eine regelmäßige Verbindung zum Festland gibt es nicht. Will ein Schiff fahren, muss es sich nach Ebbe und Flut zu richten. Im Winter, wenn der kalte Nordwind strengen Frost im Gepäck führt, helfen „Eisboote“. Nur so kommt die Post auf die Insel.

Es ist der Sylter Heimatforscher Christian Peter Hansen, den die Idee einer „bequemen Verbindung zum Continent“ beschäftigt. Er schreibt darüber in seiner 1856 veröffentlichten „Chronik der friesischen Uthlande“. Auf dem Festland spricht sich derweil herum, wie traumhaft der Strand von Westerland ist. Die Anreise mit Bahn und Schiff ist zwar umständlich. Doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steigt die Zahl der Gäste rasant. Bereits 1877 kann ein Urlauber zwischen „150 Hotels, Pensionen und Privatquartieren“ wählen, schreibt Jan Kirschner in dem Buch „Auf den Schienen durch die Nordsee“. 1887 werden „in Westerland erstmals über 5000 Kurgäste registriert“.

Trotz dieses Aufschwungs findet die Idee eines Dammes zunächst kaum Unterstützer. Zwar gelingt dem Badearzt Michael Marcus Ende der 1870er Jahre, alle Westerländer Einwohner zur Unterschrift unter eine Petition für die feste Verbindung zu bewegen. Doch die zuständige Direktion der Altona-Kiel-Eisenbahngesellschaft winkt ab. Es ist unklar, warum die Stimmung sich nach der Jahrhundertwende ändert. 1910 signalisiert das Landratsamt Schleswig Wohlgefallen an der Damm-Idee. 1913 gibt der Reichstag in Berlin die Gelder frei. Wenige Monate später werden die „Vorarbeiten für einen hochwasserfreien Damm“ abgeschlossen. Durchs Watt soll es gehen, „auf der Wasserscheide zwischen dem nördlichen und dem südlichen Sylter Watt“. Dann aber bricht der 1. Weltkrieg aus.

Als Deutschland 1918 kapituliert, steht das Land vor dem Abgrund. Die wirtschaftliche Not ist unbeschreiblich. Kaum einer kommt auf die Idee, Urlaub an der See zu machen. Sylt ist doppelt geschlagen, weil Tondern und Hoyerschleuse - dort starten die Fähren zur Insel - an Dänemark gehen. Wer nach Sylt will, benötigt anfangs ein Visum. Später werden stattdessen die Züge plombiert. In dieser Situation gibt Berlin den Syltern ein Versprechen. Votieren die Insulaner am 20. März 1920 bei einer Volksabstimmung für den Verbleib der Insel bei Deutschland stimmen, bekommen sie ihren Damm. Mehr als 88 Prozent der Sylter sagen „Ja“.

1923 beginnen die Arbeiten. Margarete Boie erzählt in ihrem Roman die Geschichte von Dammbaumeister Heinrich Bremer und Dammpastor Peter Boy Eschels. Vieles ist erfunden, aber die technischen „Grundtatsachen entsprechen den Geschehnissen“, wie Manfred Wedemeyer, ehemaliger Leiter der Sylter Volkshochschule, schreibt. Der Bau des Damms ist Meisterwerk und Herausforderung für die Ingenieurskunst zugleich. Geplant ist, vom Festland ausgehend mit einem großen Bagger Buschwände in der Breite der Dammsohle zu errichten. Anschließend soll die Sohle mit Wattboden „eingespült“ werden. Doch was in der Theorie funktioniert, bereitet in der Praxis Probleme.

Der Sylter Wattenboden, so schreibt Boie, besteht „zur Hälfte aus äußerst feinem Sande, zum andern Teil aus einem fetten Klei, der sich überhaupt nicht setzen wollte, sondern mit dem Spülstrom wieder davontrieb“. Wegen seiner Feinkörnigkeit kann der Sand nur bei ruhigem Wetter eingesetzt werden. „Die Nachttiden liefen oft höher auf als der Tidehub des Tages, da spülte die Flut zwischen zwei Arbeitsschichten oft mehr als die Hälfte des tagsüber Gewonnenen wieder aus den Buschdämmen.“

Eine der am besten organisierten Baustellen ihrer Zeit

Was in dem Roman kompliziert klingt, ist eine der am besten organisierten Baustellen ihrer Zeit. 300.000 Tonnen Basalt werden während der vier Jahre Bauzeit an der 39,2 Kilometer langen Strecke zwischen Niebüll und Westerland verarbeitet; drei Millionen Kubikmeter Erdboden bewegt. Rund 1500 Menschen sind beteiligt, schuften teilweise unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Es ist aber auch ein atemberaubend teures Bauwerk, das im Schatten von Wirtschaftskrise, Geldentwertung und Arbeitslosigkeit entsteht. 18,5 Millionen Reichsmark werden für den Damm ausgegeben - ein Meter kostet 1700 Reichsmark. „Das alles war so weitläufig und kostspielig gedacht“, schreibt Margarete Boie. „Dann sollten auch hier die kleinen Lorenzüge über die Spundwand rollen, und der kostbarste Granitschotter sollte mir nichts dir nichts ins Watt geschüttet werden.“

Doch nichts kann den Bau des Damms mehr stoppen. Am 1. Juni 1927 setzt sich der erste offizielle Zug in Bewegung: „10 Uhr 30! Durch die Sekunde weht eine Ahnung Historie“, schreibt der „Sonderberichterstatter“ des „Hamburger Fremdenblatt“. „Der Zug rollt langsam zwischen zwei eckigen, tannengrünumwundenen Ehrenpforten mit wehenden Fahnen auf den Damm. Einen Augenblick wird es in den Abteilen und auf den Gängen recht still. Das Wattenmeer in seiner Weite leuchtet auf bis zum fernen schwarzgrünen Inselkamm hinüber, opalisiert mit seinen dünnen Wellen in den Zug hinein.“

In unserer Diesellok geht es weit weniger feierlich zu. Für Hansi Albertsen ist der Damm Alltag. Seit 2003 arbeitet er als Lokführer und fährt in einer Schicht bis zu zwölf Mal durchs Watt. „Jede Fahrt ist eine andere“, erzählt der 46-Jährige. „Das Meer zeigt oft ein ganz unterschiedliches Gesicht.“ Am schönsten ist - natürlich! - die Fahrt in die Abendsonne. „Dann wird alles ganz golden, so dass einem das Herz aufgeht.“

Hansi Albertsen war nicht immer Lokführer. Der gelernte Kfz-Mechaniker arbeitete viele Jahre als Rangierer auf dem Bahnhof in Niebüll. Bis das Weiterbildungsangebot von der Bahn kam. „Ein halbes Jahr habe ich gelernt“, sagt der Vater von zwei Töchtern und lächelt. Seinen Job liebt er, auch wenn die erste Fahrt morgens um 5.15 Uhr losgeht oder der letzte Autozug 23.16 Uhr Westerland verlässt.

Einmal erlebte er, wie ein Fahrgast die Notbremse zog. „Der Mann hatte befürchtet, dass sich von dem Fahrzeug vor ihm die Dachbox lösen könnte“, erzählt Albertsen. „Manchmal weht es schon heftig.“ Man mag nicht glauben, dass Wind einem so kräftige Lokomotivkoloss überhaupt etwas anhaben kann. „Wir können zwar bis Windstärke 12 fahren“, sagt Albertsen. „Aber man merkt an der Geschwindigkeit schon, wenn es heftig weht.“

Wir haben inzwischen richtig Fahrt aufgenommen. Alle zweihundert Meter zeigt eine Hektometertafel an, wo der Zug sich befindet. Wir passieren gerade das Schild, auf dem oben die 200 und darunter die 0 steht. „Gemessen wird auf dieser Strecke die Entfernung bis zum Bahnhof Altona“, erklärt Albertsen. Mit anderen Worten: wir sind in diesem Moment exakt 200 Kilometer von Altona entfernt. Es fühlt sich gut an, dass der Lokführer bei einem Vorfall genau sagen könnte, wo der Zug sich befindet.

Eine Brücke nach Sylt? "Dann ist das Flair weg."

Von einer Brücke nach Sylt, wie sie immer wieder im Gespräch ist, hält der Eisenbahner wenig. „Dann ist das Flair weg.“ Außerdem liebten viele Passagiere die Überfahrt, bei der sie in ihrem Auto sitzen bleiben können. „Natürlich wollen alle, wenn sie auf die Doppelstockwagen fahren, oben stehen. Da ist die Aussicht schöner.“ Es gibt einen weiteren Grund, warum die Bahn eine Brücke nach Sylt ablehnt. Die „rollende Landstraße“ ist für das Unternehmen höchst profitabel. Vor allem in der Sommerzeit ist auf dem Autozug oft kein Platz frei. Während im Sommer 1939 pro Woche 143 Züge gezählt wurden, sind es heute 281. Rund 900.000 Fahrzeuge rollen im Jahr über den Damm.

Wir sind in Westerland angekommen. Hansi Albertsen hat seinen Kopf weit aus dem Fenster der Lok gesteckt, um den Autozug punktgenau zum Halten zu bringen. „Sonst passt es hinten an der Laderampe für die Autos nicht“, ruft er uns zu. Die Räder quietschen. Ein Rucken. Der Zug steht. An der Laderampe warten die Autos, die der Zug hinübernehmen wird aufs Festland. Die wenigsten Autofahrer werden dabei an jene denken, die vor Jahrzehnten den Damm dem Meer abgerungen haben.

„Diese Einsamkeit hier im Watt ist größer als ich je eine erlebte“, lässt Margaret Boie ihren Dammbaumeister Bremer sagen. „Gewiss, nach der einen und der andern Seite hin führt der Damm zu Menschen, aber hier mitteninne ist man ihnen doch sehr fern. Man sieht meilenweit und kann doch keinen Menschen erreichen.“