Hunderttausende Kubaner machen sich auf den Weg ins Unternehmertum - vorsichtig zunächst und mit der hier gebotenen Gelassenheit

Auf der Mauerbrüstung des Malecón liegen ein blaues Tuch und eine Wassermelone. Eliseo hat die Opfergaben für Yemayá abgelegt, die Meeresgöttin. "Immer wenn ich Probleme habe, gehe ich zu ihr ans Meer", sagt er. Yemayá ist im afrokubanischen Santeriakult die Mutter aller Lebewesen, Eliseos Schutzpatronin. Diesmal ruft er sie an, weil er Angst um die Zukunft hat. "Die Regierung will wegen der Wirtschaftskrise eine Million Leute entlassen." Die Göttin soll seinen Job retten.

Die Wellen spritzen meterhoch und verpassen den Passanten eine kräftige Dusche. Ein Zeichen von Yemayá, dass sie ihn erhört hat? Ein dreirädriges Taxi hält, der Fahrer winkt. "Rentar una fantasia" steht auf dem gelben Heck: Miete dir ein Luftschloss. In 20 Minuten holpert das Gefährt flott über die unebenen Straßen in die Altstadt, wo fast alles anders ist als im übrigen Havanna. Im Unesco-geschützten Quartier glänzen die Kathedrale und die prächtig restaurierten Bauten aus der Kolonialzeit.

Die neuen Selbstständigen sind der Regierung noch suspekt

Durch Straßen wie die Calle Obispo, Obrapia und San Ignacio strömen Touristen, die der historischen Atmosphäre nachspüren, und Kubaner, die die Nähe der betuchten Gäste suchen. Auf der Plaza de la Catedral posieren Frauen in bunten Trachten und Opas mit dicker Zigarre im Mund für ein Foto. Auf der Plaza de Armas preisen Buchhändler Revolutionsdevotionalien an und stricheln Künstler blitzartig Karikaturen aufs Papier. Vor dem Rum-Museum in der Calle San Pedro offerieren Besitzer amerikanischer Schlitten Stadtfahrten, pro Stunde 25 CUC, der kubanischen Devisenwährung - das entspricht umgerechnet einem Monatslohn in kubanischen Peso und etwa 20 Euro. Die neuen Selbstständigen sind der Regierung noch suspekt. Doch Kuba bereitet sich gerade auf die Privatwirtschaft vor.

Auf touristischem Pflaster macht mancher schon länger sein Glück. Sukzessive erlaubte die kubanische Regierung ein bisschen Unternehmertum, zum Beispiel bei Taxis, Restaurants und privat geführten Pensionen, die mit Beschränkungen auf eigene Rechnung agieren dürfen. Ein bisschen, nur nicht zu viel. Denn der Sozialismus soll bleiben, und "den Markt" halten viele für politisch gefährlich. Doch das Land ist wirtschaftlich am Ende. Die Regierung kündigte deshalb im schon im letzten Jahr Entlassungen an und forderte mehr Privatinitiative. Auf dem jetzt beginnenden Parteikongress sollen grundlegende Reformen beschlossen werden. Bei aller Ungewissheit ist eines gewiss: Einen strukturellen Wandel muss es wohl geben. Quo vadis, Kuba?

Auf der Autobahn nach Pinar del Río fährt der Reisebus gut 30 Minuten, als das Getriebe mit Getöse auf die Straße fliegt. Die Situation erinnert irgendwie an das Roadmovie "Kubanisch Reisen", das Carlos Tabio 2000 drehte. Seine Botschaft: Nimm dein Schicksal in die Hand. So wandert die Gruppe zum nächsten Rastplatz mit Café. Drei Stunden später ist der Ersatzbus da.

Königspalmen, Reisfelder und blühende Flammenbäume säumen die Straße. Bauern ziehen mit Ochsenkarren neue Furchen in die Äcker, Beregnungsanlagen rollen über Felder. Die Lethargie ist passé, seit der Staat Privatbauern bis zu 65 Hektar brachliegendes Land verpachtet, um die Lebensmittelversorgung anzukurbeln. Eine mühsame Arbeit, denn es mangelt an allem: Saatgut, Düngemittel, Benzin. Fast zynisch mutet da Comandante Raúls Ausspruch auf einer Plakatwand an: "Por muy grandes sean las dificultades, vayan adelante!" - Seien die Schwierigkeiten noch so groß, wir gehen voran!

Rote Erde kündigt die Tabakregion Vuelto Abajo und den Nationalpark Viñales an, wo grün bewachsene Kalksteinfelsen wie Elefantenrücken aus dem Boden wachsen, endlich mal frei von Nebel sichtbar. Pinar del Río ist eine staubige Stadt, in der Besucher die Tabakfabrik Francisco Donatién und die farbenfrohen Arkadenhäuser ansehen. Am neoklassizistischen Teatro Milanés hat Guillermo seine schattige Terrasse in einen Barbiersalon verwandelt. Frisiersalons gehören zum Pilotprojekt für selbstständige Arbeit. "Ein Schnitt mit Rasur 20 pesos!" Er strahlt, weil er jetzt mehr als vorher verdient. Er brauchte nicht viel, um Unternehmer zu werden - Stuhl, Schere, Spiegel.

Plantagen, Plantagen, Plantagen. Auf der Autopista gen Süden sieht man kaum anderes als Zuckerrohrplantagen, Reisfelder und Weideflächen für Rinder. In Trinidad lässt sich tropisches Lebensgefühl mit Händen greifen. Gekonnt tänzeln die Bewohner über ihre Wege aus riesigen Pflastersteinen, die einst als natürliche Gewichte mit jenen Schiffen kamen, die hier Zucker luden. Zum Verlieben sind die bunten Häuser mit Fenstergittern, geschmiedete oder gedrechselte, auf deren Veranden die Trinidenser in Schaukelstühlen wippend die Welt betrachten. An fast jedem zweiten Haus hängt ein Vogelkäfig, nah beieinander, damit die Negritos um die Wette singen. In den Gassen zur Plaza Mayor hat sich ein Kunsthandwerkmarkt etabliert, wo handgemachte Musikinstrumente, Schmuck aus Perlmutt und Horn, geschnitzte Holzfiguren und Stoffpuppen angeboten werden. "Hola mi reina, buen precio" - Hallo meine Königin, alles billig. Wie der Markt funktioniert, wissen die Kubaner längst.

Schon jetzt existiert auf Kuba eine Zweiklassengesellschaft

Camagüey ist die Stadt der Tonkrüge, der Kirchen und der Fahrräder. "Woher kommst du?" Der junge Mann bremst abrupt und hält sein Fahrrad an. "Deutschland?", fragt er: "Wunderbar. Alles gut. Ohne Fleiß kein Preis." Er lacht, steigt wieder aufs Fahrrad und verschwindet in der Menge der Drahtesel. Ob gewollt oder nicht. Der Satz sagt viel darüber aus, was Kubaner gerade beschäftigt. Für die Stadttour ist hier nichts typischer als das Bici-Taxi. In der Hitze strampelt sich der Fahrer ganz schön ab, kurvt zur Nuestra Señora de la Merced, der ältesten Kirche der Stadt, zur Plaza San Juan de Dios, dessen koloniale Atmosphäre sorgfältig gepflegt wird, und zur Plaza del Carmen, auf der die Künstlerin Marta Jimenez ihre lebensgroßen Skulpturen wie die "schwatzenden Damen" zum Inventar des Platzes gemacht hat. Die Abgebildeten sind Menschen aus dem Viertel, die sich für ein wenig Geld neben ihrem Abbild aus Bronze fotografieren lassen.

In Santiago sind die Moncada-Kaserne und das Castillo del Morro obligatorisch, auch der Friedhof Santa Ifigenia, der seit dem Tod von Compay Segundo in 2003 zum Pilgerziel der Buena-Vista-Fans geworden ist. Mit Santiagueros kommt man leicht ins Gespräch, auch im Gartencafé der Casa del Caribe. "Kuba wird sich verändern, langsam", meint Kulturmanager Waldo. Schon jetzt existiere auf Kuba eine Zweiklassengesellschaft. "Es gibt viele Profiteure, die im Tourismus reich geworden sind." Eigentlich sollte die Parallelwährung die Welt der Touristen von der Welt der Kubaner trennen. "Das ist nicht gelungen. Es zerreißt die Gesellschaft", beklagt Waldo. "Das Rad lässt sich nicht zurückdrehen."

Man muss gelassen sein, lautete das Motto von Compay Segundo. Gelassenheit braucht man auch, wenn einen die Neugier zum Santero schickt. Schon auf der Fahrt zum Magier Babalao durch düstere Viertel, wo die Blicke der Menschen finster sind, verlässt sie einen. Schließlich steht man vor ihm, der im richtigen Leben Orlando Palacio heißt. "Wegen der Zukunft kommen viele", grinst er und setzt sich eine weiße Kappe auf. Er wirft Kaurimuscheln, Steine und eine Kette aus Kokosnussschalen auf den Boden. Der alte Mann schließt die Augen, brabbelt mit den Göttern und wirft die Kette erneut. "Deine Zukunft ist rosig", flüstert er. Und die Kubas? Er wirft die Kette erneut. "Kuba wird leben", lautet die Botschaft. "Die Menschen werden in Freiheit, Würde und Unabhängigkeit leben", sagt er bestimmt. Dann verlangt er 10 CUC und verschenkt einen Kuss auf die Wange.

Video: Havanna - Irgendwie geht alles