Verein Missbrauch in Ahrensburg fordert nach Skandal im letzten Jahr, längere Verjährungsfristen und Änderungen im Kirchengesetz.

Ahrensburg. Missbrauch in Ahrensburg. Drei Worte, die im vergangenen Jahr für den bislang größten Skandal in der evangelischen Kirche standen. Gleichzeitig waren sie namensgebend für die daraus entstandene Opferinitiative. Es brauchte den Druck eines kircheninternen Ermittlungsverfahrens, bis der ehemalige Pastor Dieter Kohl nach acht Monaten den Missbrauch mehrerer Jugendlicher von Ende der 70er- bis Mitte der 80er-Jahre zugab. Einige seiner Opfer hatten den Mut, in die Öffentlichkeit zu gehen. Im Juni 2010 gründeten sie, nachdem sie zuvor eine Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen hatten, den Verein Missbrauch in Ahrensburg. Heute ist der Verein Teil eines bundesweiten Bündnisses gegen sexualisierte Gewalt im Kindesalter.

"Wir hatten das Gefühl, etwas tun zu müssen", sagt der Initiator und Vorsitzende des Vereins, Anselm Kohn, mit Blick auf die Anfänge. "Deshalb gründeten wir den Verein." Erklärtes Ziel sei die vollständige Aufklärung der Geschehnisse rund um den Ahrensburger Kirchsaal Hagen. Im Mittelpunkt stehe dabei der sexuelle Missbrauch Schutzbefohlener.

Zwei Opfer haben mittlerweile mit dem entlassenen Pastor gesprochen

Das Ziel sei zwar noch immer nicht erreicht, doch die Initiative habe eine Diskussion in der Kirche angeregt. "Und wir haben ein Tabuthema aufgebrochen", sagt Kohn. Er selbst lebte zusammen mit seiner Mutter, Geschwistern und dem Stiefvater Dieter Kohl von Mitte bis Ende der 80er-Jahre im Pastorat. In jener Zeit habe der Geistliche auch ihn bedrängt. Doch vor allem sein Bruder Sebastian sei zum Opfer des Stiefvaters geworden. Erst Jahre später offenbarten die beiden Brüder einander, was sie erlitten hatten.

Jahrelanges Schweigen ist im Ahrensburger Missbrauchsskandal symptomatisch. Erst 30 Jahre nach den ersten Übergriffen von Pastor Kohl auf Schutzbefohlene werden die Vergehen öffentlich bekannt. "Es war ein Gefühl der Ohnmacht, als ich davon erfuhr", sagt Petra Billich, 47, zweite Vorsitzende des Vereins. "Mich bewegte vor allem eine Frage: Warum habe ich die Zeichen nicht gedeutet?" Von 1978 bis 1981 war sie Mitglied einer Jugendgruppe Kohls. An jenen Freizeitfahrten, wo nach Aussagen Betroffener sexuelle Übergriffe unter Alkoholeinfluss häufig vorgekommen seien, habe sie allerdings nicht teilgenommen.

Für Billich, die sich seit September vergangenen Jahres im Verein engagiert, ist die gesellschaftliche Ablehnung des Themas Missbrauch "erschreckend". Es herrsche großes Unverständnis seitens vieler Ahrensburger, warum die Initiative weiterhin die Öffentlichkeit suche. "Die Menschen wollen ihre Welt beschützen", sagt Anselm Kohn. Das könne er verstehen. "Doch wenn für jede Missbrauchstat in der Schlossstadt ein Licht leuchten würde, könnten wir in Ahrensburg die Straßenlaternen ausschalten."

Die Aufdeckung des Skandals hinterließ auch bei Kohn mehr als ein Blitzlichtgewitter. Vier Monate lang war er arbeitsunfähig. Zu groß war die Wucht der Erinnerungen und die ständige Auseinandersetzung damit. Die Aufarbeitung belastete nicht nur das Verhältnis der Kohn-Brüder untereinander, auch seine Partnerschaft habe stark darunter gelitten. "Doch das Erlebte ist Teil meiner Geschichte, ich kann dem nicht entfliehen", sagt Kohn.

Mittlerweile haben er und ein weiteres Opfer ein Gespräch mit Kohl geführt. "Ich bin froh, dass es die Chance gab, sich auszusprechen", sag Kohn. "Und froh bin ich auch, dass ich stark genug dafür war."

Doch vieles sei weiterhin ungeklärt. Noch immer wisse niemand, wie viele junge Ahrensburger in der Vergangenheit Opfer von Dieter Kohl geworden seien. Ebenso wenig sei bekannt, wie viele Kirchenvertreter schon vor Beginn des Ermittlungsverfahrens von Kohls Vergehen gewusst hätten. Deshalb hält die Opferinitiative an ihrer regelmäßigen Mahnwache fest. Jeden ersten Montag im Monat treffen sich Kohn und seine Mitstreiter um 18 Uhr am Ahrensburger Kirchsaal Hagen.

Amtierende Pastoren aus der Schlossstadt seien nicht dabei. "Sie sagen, sie könnten sich nicht daran beteiligen, weil es eine Demonstration gegen ihre Kirche sei", sagt Vereinsmitglied Wolfgang Meißner. "Ich finde es bedauerlich, dass die Pastoren so verfahren, anstatt mit uns ins Gespräch zu gehen." Der 63-Jährige hat persönliche Konsequenzen aus dem Umgang der Nordelbischen Kirche mit den Ahrensburger Fällen gezogen. "Meine Frau und ich sind im März aus der Kirche ausgetreten", sagt der Pensionär.

Er engagiert sich im Verein, weil sich die Einstellung der Gesellschaft zu sexuellem Missbrauch ändern müsse. Daran wollen die Mitglieder weiter arbeiten. "Wir möchten zum einen auf das Kirchengesetz einwirken. Es darf nicht sein, dass sich ein Pastor dem Urteil eines Kirchengerichts entziehen kann, indem er um Entlassung aus dem Dienst bittet", sagt Petra Billich mit Blick auf Kohls Vorgehen. Er hatte darum gebeten, zum Jahresende 2010 seinen Dienst quittieren zu können.

Vereine arbeiten bundesweit zusammen, um ihre Ziele zu erreichen

"Und wir wollen uns für längere Verjährungsfristen in der Strafgesetzgebung hinsichtlich sexuellen Missbrauchs stark machen", sagt Billich.

Und Anselm Kohn ergänzt: "Die Ahrensburger sollen sich auch weiterhin mit dem Thema auseinandersetzen." Er appelliert an weitere Opfer und Zeugen, sich zu äußern.

Um die großen Ziele zu erreichen, ist eine Zusammenarbeit auf Bundesebene geplant. Gemeinsam mit anderen Betroffenen engagiert sich der Verein unter dem Titel Die Bundesinitiative. Das Bündnis ist im März dieses Jahres aus dem Runden Tisch hervorgegangen, zu dem die Bundesregierung Verbände und Opfervertreter geladen hatte. Die Bundesinitiative fordert eine Novelle des Opfer-Entschädigungs-Gesetzes und die Aufhebung von Verjährungsfristen im Zivilrecht.