Mädchen wurde jahrelang von ihrem Stiefvater missbraucht. Landgericht Lübeck verurteilt ihn zu fünf Jahren Haft. Und übt erneut Kritik an Behörden.

Reinfeld/Lübeck. Mit gesenktem Kopf sitzt Christian H. auf der Anklagebank. Wartet auf das Urteil des Gerichts. Wegen schweren sexuellen Missbrauchs, verübt an seiner Stieftochter, ist der 43 Jahre alte Reinfelder angeklagt. Der Mann mit den dunkelgrauen Haaren würdigt die Richterin keines Blickes. Bleibt auch regungslos, als diese ihr Urteil spricht: Fünf Jahre Gefängnis. Am Ende des Verfahrens rügt die Richterin die Kripo wegen Verfahrensverzögerung, sagt: "Da ist etwas außer Kontrolle geraten."

Was war geschehen? Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass sich H. (alle Namen geändert) in den Jahren 2003 bis 2006 mindestens 44 Mal an seiner Stieftochter verging. Zunächst hatte der Berufskraftfahrer ausgesagt, seine damals zehn Jahre alte Stieftochter habe ihn immer wieder verführt. Später widerrief er diese Aussage. Das heute 17 Jahre alte Opfer sagte, sie habe es zu Beginn der Übergriffe für "normal" gehalten, was ihr widerfuhr. Immer, wenn ihre Mutter nicht zu Hause war, verging sich der Stiefvater an ihr. Schlich sich in das Kinderzimmer. Oder stand plötzlich vor ihr, wenn das Mädchen aus der Dusche kam. Auch in dem Zimmer, in dem er seine Modelleisenbahn aufgebaut hatte, missbrauchte er Nina.

Mehr als ein Jahr lang ließ das Kind alles über sich ergehen. Dann vertraute sich die damals Zwölfjährige einer Schulkameradin an. Die Mutter dieses Mädchens reagierte sofort, informierte das Reinfelder Jugendamt. Nina J. bekam einen Termin in der Behörde, erzählte einer Sachbearbeiterin von den Übergriffen. Doch anstatt das Mädchen sofort aus der Familie zu nehmen oder die Polizei zu alarmieren, vereinbarte die Jugendamtsmitarbeiterin weitere Gespräche mit dem Opfer. Nina J.: "Ich bin aber nicht mehr hingegangen, weil meine Mutter mir so leid tat."

Wilhelm Hegermann, Leiter des Fachbereichs Jugend, Schule und Kultur der Kreisverwaltung, rechtfertigt das Verhalten der Behörde: "Erst wenn sich ein Verdacht erhärtet, ist eine strafrechtliche Verfolgung möglich." Dafür jedoch seien wiederholte Gespräche mit dem Opfer nötig, so Hegermann.

Nachdem eine Lehrerin von Nina Ende 2005 beim Jugendamt anruft und berichtet, Nina J. habe ihr von Übergriffen ihres Stiefvaters erzählt, belässt es die Mitarbeiterin des Jugendamtes erneut bei Gesprächen. Die Polizei wird nicht informiert. Einziges Ergebnis: Nina J. soll für zwei Wochen bei einer Freundin wohnen. Danach gehen die Misshandlungen weiter. Es dauert etwa ein weiteres Jahr, bis das Martyrium ein Ende hat. Als Nina 2006 bei einem Ladendiebstahl erwischt wird, berichtet sie Polizisten von ihrem Schicksal. Diese reagieren sofort. Nina kommt in ein Kinderheim. "Ich habe erst zu diesem Zeitpunkt erfahren, was passiert ist", sagt der leibliche Vater von Nina J., der in Mecklenburg-Vorpommern lebt. "Ich bin damals aufgefordert worden, die Kosten für das Heim zu tragen", erinnert sich der 45-Jährige, der sich von seiner Frau trennte, als seine Tochter ein Jahr alt war. "Seitdem hatte die Mutter mir den Kontakt zu ihr untersagt", sagt der Mann mit Tränen in den Augen. Besonders schlimm sei für ihn, dass seine Ex-Frau nichts unternommen habe. Sie habe weder mit dem Kind noch mit dem Stiefvater gesprochen. "Ich habe es verdrängt", hatte die 45 Jahre alte Mutter im Prozess ausgesagt. Noch heute ist sie mit Christian H. verheiratet, hat mit ihm eine zwölf Jahre alte Tochter. Ninas leiblicher Vater sagt, er sei wütend über das "Versagen des Jugendamtes", wütend auch über die "Verfahrensverzögerung durch die Polizei". Auch das Opfer leidet immer noch. Nach Prozessende erinnert sich die 17-Jährige mit den langen blonden Haaren: "Mir ist damals vom Jugendamt nicht geholfen worden."

Ganze fünf Jahre wird der Verurteilte nicht in Haft bleiben müssen, weil ihm neun Monate wegen Verfahrensverzögerung angerechnet werden. Diese resultiert daraus, dass zwischen polizeilichem Bekanntwerden der Tat und Anklageerhebung mehr als vier Jahre vergingen. Die Richterin sieht die Ursache dafür bei der Kripo Bad Oldesloe. Denn sie geht davon aus, dass die Akte Nina J. 2006 dort verloren ging. Die Polizei indes weist jede Schuld von sich. Die ermittelnden Beamten hätten die Akte an die Staatsanwaltschaft Lübeck weitergeleitet. Kam sie dort je an? Oberstaatsanwalt Günter Möller: "Wir haben von dem Fall erst zweieinhalb Jahre später erfahren. Das Jugendamt rief 2009 bei uns an, um sich zu erkundigen, was aus dem Fall geworden ist."

Daraufhin brachte die Staatsanwaltschaft den Fall Nina J. erneut ins Rollen. Nina J.: "Es war mir nicht so wichtig, wie hoch die Strafe ausfällt. Mir ist wichtig, dass mir geglaubt wird."