Abendblatt-Schreibwettbewerb: Leserin Gudrun Kreplin aus Barsbüttel über ihre Flucht von einem DDR-Schiff und nette Polizisten.

Es ist saukalt an diesem Morgen Ende März 1970. Schneeschauer wechseln sich mit Graupeln ab. Im Hamburger Hafen ruht noch die Arbeit.

Lautlos gehen zwei Gestalten in dunklen Mänteln die steile, rutschige Gangway hinunter. Als sie festen Boden unter ihren Füßen spüren, wenden sie sich dem Schiffsrumpf zu. Der stattliche Mann beugt sich vor, zeigt dienstbeflissen auf die Tiefgangsmarkierung und nickt. Er wirft einen forschenden Blick zurück und hinauf auf die Gangway, wo eigentlich ein Wachmann seinen Platz haben sollte. Aber dort steht keiner und auch an Bord bleibt alles ruhig. "Los!" sagt er da leise, und schon entfernen sich die beiden Gestalten mit eiligen Schritten.

Sobald sie aus dem Lichtkegel der Kai-Beleuchtung herausgetreten sind, beschleunigen sie ihr Tempo, um bald darauf in den Laufschritt zu verfallen. Doch da hat sie der morgendliche Dunstschleier schon verschluckt. Erst hinter den Schuppen verschnaufen sie einen Moment, um bald darauf den Hafenbereich in Richtung Elb-Fähre zu verlassen. Während sie darauf warten, dass sich eine passende, in Richtung Landungsbrücken nähert, hat sie der eisige Niederschlag bis auf das Hemd durchnässt. Die Frau, in ihrem modischen Kurzmantel, betrachtet ihre blau gefrorenen Beine, die in einer dünnen Strumpfhose stecken. Wie gut täte ihr jetzt eine warme, lange Hose.

+++Teilnahmebedingungen+++

Langsam taucht die Fähre aus dem einsetzenden Schneegestöber auf. Das Paar hält sich abseits, aber die Hafenarbeiter haben ohnehin keine Augen für sie. Steifbeinig steigen die beiden Gestalten auf das schaukelnde Fahrzeug. Sie haben keine Fahrkarte, doch es kontrolliert sie keiner. Die Fahrt hinüber, über den breiten Fluss, den sie gestern Abend herauf gekommen waren, kommt ihnen endlos vor. Sobald die Leinen über die Poller gehievt sind, springen sie an Land. Zitternd und bebend vor Kälte trotten sie hinauf auf die Straße. Hamburg erwacht. Lärm dringt durch den Sturm an die frierenden Ohren, Abgase ziehen beißend in die Nase. Sie zucken vor dem ungewohnten Verkehr zurück und sind einen Moment ratlos. "Wohin?", fragt die Frau. "Erst einmal auf ein Polizeirevier", erwidert der Mann, nimmt sie an die Hand und zerrt sie mit sich fort.

Als sie bald darauf schlotternd vor dem Tresen der Wache stehen, ist ihre Geschichte schnell erzählt. Flucht von einem DDR-Schiff. Mehr will der Beamte vorerst gar nicht hören.

Er nimmt sie mit in einen angrenzenden Raum, in dem andere Polizisten sie neugierig ansehen. Wohlige Wärme strömt ihnen entgegen. "Flüchtlinge", sagt der Beamte kurz. "Kümmert euch um sie". Das lassen sich die Männer nicht zweimal sagen. Schnell entledigen sich die Hereingekommenen ihrer nassen Mäntel, und schon steht dampfender Kaffee vor ihnen. Jeder Polizist steuert mit seinem Anteil an eigenen Frühstücksbroten dazu bei, dass die Ankömmlinge herzhaft zubeißen können. "Hier, den hat meine Mama gebacken", sagt ein blonder Jüngling und reicht sein Päckchen herüber. "Topfkuchen mit Rosinen, mein Lieblingskuchen", sagt der Verfrorene grinsend und langt ungezwungen zu.

Die Uniformierten halten sich zurück, aber dann muss das Paar berichten. "Woher?" "Warum?" "Wohin?" Geduldig geben beide Antworten. "Wollt ihr noch einmal zurück, um Kleidung zu holen?" Die Flüchtlinge sind fassungslos. "Wer wird uns beschützen?" "Das dürfen wir nicht, das Schiff ist Hoheitsgebiet der DDR". Nein, niemals würden sie wieder auch nur einen Fuß dahin setzen. Auch die Frage nach dem "Wohin?" können sie nicht beantworten. Die Bahnhofsmission wird zurate gezogen und bald darauf sitzen die Flüchtlinge in einem Zug in Richtung Aufnahmelager Gießen. In den Taschen haben sie die restlichen "Lunchpakete" der Nachtwache des Polizei-Reviers, gespendetes Kleingeld für einen Kaffee und eine Fahrkarte von der Mission. Freiheit, endlich frei sein von politischen Zwängen. Das Ziel ist erreicht.

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