Leser Klaus Müller aus Reinbek über Tulpen für die Tante im Osten

Silvester 1989 stand im Abendblatt: "Die Sperrgebiete zwischen der Bundesrepublik und der DDR dürfen ab sofort wieder besucht werden". Dieser fünf Kilometer breite Streifen war uns bei Verwandtenbesuchen immer unheimlich gewesen. Bei Nacht war es dort stockfinster, kurz vor dem Gebiet flammte ein grelles Scheinwerferlicht auf und beleuchtete die Grenze. Wir waren stets froh, wenn wir die Gegend wieder verlassen konnten.

Nun konnten wir endlich zur Tante fahren. Und sie hatte auch noch Geburtstag. Also Tulpen kaufen, ins Auto und los in Richtung Lübeck, denn hinter Travemünde, im kleinen Dorf Harkensee, wohnt die Verwandtschaft.

Die sonst so fiesen Grenzkontrollen waren dieses Mal human. Ein Grenzer sah das Auto an, fragte: "Na, ist es gut gefedert?" Die Frage war berechtigt. Der Weg war sehr schlecht. Aber es war zu schaffen. An den Straßen standen Kinder, die dem Westwagen zuwinkten. Es war eine euphorische Stimmung.

Wir hatten immer Kontakt gehalten, durch Treffen außerhalb des Sperrbezirks und mit Hilfe von Briefen und Paketen. Nach unserer ersten Silvesterfahrt folgten nun Gegenbesuche im Westen. Seit jenem ersten Treffen bekommt unsere Tante von ihrer Tochter, die dort auch mit Familie wohnt, Tulpen zum Geburtstag. Zu DDR-Zeiten war das unmöglich: Tulpen zu Silvester.

Zwei Monate später im Februar wurde auch die Strandgrenze am Priwall geöffnet. Auch dieses geschichtliche Ereignis wollten wir miterleben. Meine Frau und die Kinder machten sich auf den Weg, ein Fahrrad für die Enkeltochter der Tante mit dabei.

Am Strand lagen Überreste der Vergangenheit, und so mussten sie durch den Zaun klettern. Auf dem Rückweg war er verschwunden.

Es war ein ziemlich weiter Weg zu Fuß nach Harkensee. Es waren viele Leute unterwegs. Alle wollten die offene Grenze sehen. Vom umgestürzten Wachtturm brach ich ein paar Brocken ab und schrieb das Datum darauf. Als die Tochter der Tante Silberhochzeit feierte, bastelte ich daraus eine Collage mit Wachtturm und Strand. Es war ein Supergeschenk, das an eine schreckliche Zeit erinnern soll.

Die ehemalige DDR-Bevölkerung wird dieses Wendejahr nie vergessen, denn von da an war das ganze Leben verändert. Und uns wurde klar, welches Glück wir gehabt hatten, auf der anderen Seite zu wohnen.