Leserin Helga Leydag aus Bargteheide bekommt Besuch von Lehrern aus der ehemaligen DDR. Und lernt eine Lektion fürs Leben

An jenem Tag war ich schon in der Pause in meinen Klassenraum gegangen. Ich wollte sicher sein, dass für die Gäste - eine Delegation von Kolleginnen und Kollegen aus dem sächsischen Weißwasser - in meinem Englischkursus des zwölften Jahrgangs genug Stühle bereitgestellt worden waren.

Meine Gedanken wanderten zu Antonia, einer der besten Schülerinnen dieses Kurses. Die schlanke junge Frau war vor vier Jahren an unsere Schule gekommen, nachdem ihre Familie aus der ehemaligen DDR nach langjährigem Berufsverbot des Vaters ausgewiesen worden war. Sie hatte sich - scheinbar mühelos - mit großem Ehrgeiz und Fleiß in das ihr unbekannte Schulsystem eingefunden. Englisch musste nachgeholt werden, Russisch konnte sie als zweite Fremdsprache beibehalten, um die Voraussetzungen fürs Gymnasium zu erfüllen.

In unserem Kollegium war der Besuch mit Freude und Spannung erwartet worden. Einen besonderen Plan für diese Stunde gab es nicht, der Unterricht würde wie gewohnt in englischer Sprache stattfinden, alles andere sollte sich aus der Situation ergeben.

Und da strömten sie nun herein, meine Schüler, unsere Gäste. Nachdem sich alle gesetzt hatten, folgte in Sekundenschnelle eine mit den menschlichen Sinnen spürbare Abtastung der unbekannten Gegenüber. Die Schüler nahmen Maß, registrierten die Reaktionen und das äußere Erscheinungsbild der Gäste und schienen virtuelle Checklisten zu erstellen, um den Grad der Übereinstimmung mit ihren Erwartungen auszutarieren.

Als einer der Kollegen aus der ehemaligen DDR fragte, ob der Unterricht immer nur auf Englisch abgehalten würde, war das der Beginn für eine nicht gelenkte Frage- und Antwort-Stunde. Die Schüler wollten nun ihrerseits wissen, wie der Schulalltag in der ehemaligen DDR ausgesehen habe und wie der Wechsel zu "Westunterricht" geschafft worden sei.

Plötzlich meldete sich Antonia zu Wort. Ihre Stimme war wie immer sehr leise, aber bestimmt, ihr Ton aber hatte etwas Feindseliges. "Sie haben eben gesagt, dass im Grunde in der DDR zu Ihrer Lehrerzeit alles genauso gewesen sei wie hier", formulierte sie scharf, "gut Begabte seien ebenso gefördert worden und hätten adäquate Schulen besuchen können. Ich habe da ganz andere Erfahrungen gemacht. Meine Geschwister und ich durften keine weiterführende Schule besuchen, bei uns fing das Drama schon im Kindergarten an. Das System hat uns offenbar in Sippenhaft genommen, die Lehrer haben über uns entschieden."

Harsche Worte, gerichtet an Menschen, die persönlich nichts mit ihrem Schicksal zu tun hatten. Entsetzen, Abwiegelungsversuche, Rechtfertigungsbekundungen. Der Pausengong war die Rettung. Auf der Toilette fand ich Antonia in Tränen aufgelöst. Sie ließ sich umarmen und hauchte mir ein "Danke" entgegen. Was wohl in ihrer Seele vorgegangen sein mag?

Im Lehrerzimmer herrschte schon Aufbruchsstimmung, der Focus lag nun auf der Gestaltung des Nachmittags. Das Sightseeing-Programm Hamburg lockte. Am Ende stand der gewünschte Besuch in einem Einkaufszentrum. Unsere Gäste kamen aus dem Staunen nicht heraus, und mich überkam ein merkwürdiges Gefühl von Unwohlsein. So, als habe er meine Empfindungen gespürt, klopfte mir einer unserer Gastkollegen auf die Schulter und kommentierte in fröhlichem Sächsisch: "Ja nü, bei Euch ist es ja genauso wie bei uns - nur andersrum. Hier sind die Geschäfte voll mit Sachen und kein Mensch ist drin, und bei uns wollten die Leute immer alles kaufen, aber die Geschäfte waren leer. Eben alles genauso, nur andersrum." Das hat mich umgehauen.

Ich hatte meine Lektion gelernt. Wir wussten viel zu wenig von der DDR und waren blauäugig gewesen. Alle Dinge sind gleich, nur wenn man sie wendet eben andersrum. Alles eine Frage der Perspektive.