Rudolf Kastelik ruft weitere Opfer auf, nicht länger zu schweigen. Er leide noch heute unter den psychischen Folgen der Übergriffe.

Bad Oldesloe. Ein weiterer früherer Schützling aus dem Oldesloer Kinderheim St. Josef erhebt schwere Vorwürfe gegen einen ehemaligen Kaplan. Rudolf Kastelik, der von 1958 bis 1964 in der katholischen Einrichtung gelebt hat, sagt, auch er sei sexuell missbraucht worden. Vor knapp drei Wochen hatte ein heute 66 Jahre alter Dresdner, der namentlich nicht genannt werden möchte, denselben Vorwurf öffentlich geäußert (wir berichteten).

Rudolf Kastelik sitzt unruhig in der Empfangshalle eines Hotels in seiner Heimatstadt Lübeck. Vor dem 62-Jährigen liegt ein dicker Aktenordner mit der Aufschrift "Schläge im Namen des Herren". Darin hat er Zeitungsartikel über Missbrauchsopfer, persönliche Notizen und Bilder zusammengetragen. Mehr als 50 Jahre lang hat er geschwiegen. Sogar seiner Frau habe er erst vor vier Wochen von seinen Kindheitserlebnissen erzählt.

Seine Leidensgeschichte ist lang und führt durch mehrere Kinderheime der katholischen und evangelischen Kirche sowie zu Familien zwischen Flensburg und dem Harz. An einige Erlebnisse in dem Oldesloer Heim erinnert sich der Heilpädagoge noch gut. Er und andere Kinder hätten ihre Hosen vor dem Kaplan zur "Hygienekontrolle" herunterlassen müssen. Kastelik: "Dabei gehörte der Kaplan gar nicht zum Erziehungspersonal." Das seien die Nonnen gewesen. Die schauten, so Kastelik, aber weg. Wenn er in der Badewanne saß, habe der Kaplan schon mal an die Tür geklopft, und die Nonne sei aus dem Raum verschwunden. Kastelik: "Der Kaplan hat mich dann befummelt."

In einem früheren Gespräch mit der Stormarn-Ausgabe des Abendblattes hatte der Geistliche, der in einem Seniorenheim in der Nähe von Hamburg lebt, alle Vorwürfe zurückgewiesen. "Ich habe damit nichts zu tun", sagte er, "ich habe eine weiße Weste."

Dagegen betont Rudolf Kastelik, dass er noch immer leidet. Schlafstörungen, Depressionen, Weinkrämpfe und Suizidgedanken - mittlerweile kann er darüber reden.

Der Gang in die Öffentlichkeit sei für ihn auch ein Stück Therapie. Außerdem will er andere Opfer ermutigen, auch über ihre Erlebnisse zu sprechen. Er selbst sei durch die Berichte über Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg zu diesem Schritt gekommen. Der Direktor der Jesuitenschule hatte zu Beginn des Jahres alle Missbrauchsopfer aufgefordert, sich zu melden. "Das war für mich der Auslöser", sagt Kastelik.

Er wandte sich ans Erzbistum Hamburg. Anfang März war er zu einem Gespräch bei Erzbischof Werner Thissen. Und auch das Oldesloer Kinderhaus an der Straße Wendum besuchte er, um mit der heutigen Leiterin Birgit Brauer zu sprechen. Kastelik: "Jetzt ist es dort viel besser. Alles ist ganz offen. Das ist nicht mehr mit damals vergleichbar." Bei Eintritt in den massiven Backsteinbau habe er aber das Gefühl gehabt, es ziehe ihn jemand zurück. In den langen Gängen kamen die Erinnerungen an seine Leidenszeit wieder hoch. Auch an Prügel von einigen Nonnen: "Das war damals normal."

Rudolf Kastelik hat lange geschwiegen. Wie viele andere Opfer auch. Einige brauchen Jahrzehnte und einen Auslöser, um sich gegenüber anderen zu öffnen. "Ich habe es schon vorher versucht", sagt der Lübecker, "aber man hat uns damals nicht geglaubt." 1984 sei er sogar nach Rom gefahren, um einem Bischof von den sexuellen Übergriffen zu erzählen. Der Geistliche habe sich alles angehört und gesagt, dass er sich melden würde. "Darauf warte ich bis heute", sagt Kastelik. Um seine Kindheit und Jugend chronologisch zu ordnen, sei er auch beim Jugendamt in Lübeck gewesen. Dort war seine Akte aber nicht mehr vorhanden.

"Ich will keine Rache", sagt er, "ich möchte dazu beitragen, dass so etwas nie wieder passiert." Deshalb werde er auch Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener gegen den ehemaligen Kaplan erstatten. Auch gegen das Kinderhaus St. Josef in Bad Oldesloe sowie weitere Institutionen und Menschen auf seinem Leidensweg will der Lübecker gerichtlich vorgehen. Unter anderem fordert er Unterstützung, eine Therapie und Entschädigung - auch finanzielle. Bahnfahrkarten zu den Therapiesitzungen könnten ein Anfang sein.

Dass die von ihm angeprangerten Taten verjährt sein könnten, ficht Kastelik nicht an. Er hat Hoffnung, dass dennoch ermittelt werden könnte, wenn sich noch weitere Opfer melden würden. Schließlich hätten sich bei einer Internet-Petition an den europäischen Gerichtshof bereits mehr als 12 000 Menschen dafür ausgesprochen, dass die Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch aufgehoben werden soll. Und auch wenn er keinen Erfolg hat, so hat Rudolf Kastelik eine Gewissheit: "Vor Gott verjährt kein Verbrechen."