Ahrensburg. Die ukrainische Pianistin Nataliia Strus aus Ahrensburg berichtet, wie sich die Kriegsgefahr für ihre Familie in der Ukraine anfühlt.

Eigentlich macht Nataliia Strus so schnell nichts nervös. Doch seit Wochen gehört eine unterschwellige Anspannung zu ihrem Alltag. Die Ahrensburgerin (45) stammt aus der Ukraine und jedes Telefonat in ihr Heimatland ist durch ein Thema bestimmt: Wird die russische Armee einmarschieren oder stehen die Zeichen auf Entspannung?

Familie lebt in Gebiet, das direkt an Oblast Donezk grenzt

Eine Frage, die sich auch Strus’ Verwandte stellen – ihre Eltern, Geschwister, Großeltern, Tanten und Onkel. Sie leben im Osten des Landes, in einem Gebiet, das direkt an die Oblast Donezk angrenzt. Jene Region, in der pro-russische Separatisten das Sagen haben. Jene Region, für die das russische Parlament am Dienstag von Präsident Wladimir Putin die offizielle Anerkennung der selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als souveräne und unabhängige Staaten gefordert hat.

Russland lässt die Muskeln spielen, wie ein Damoklesschwert schwebt der drohende Krieg über den Menschen, die bereits vor acht Jahren den Machthunger des russischen Nachbarn bei der Annexion der Krim zu spüren bekommen haben. Rund 2000 Kilometer liegen zwischen Nataliia Strus’ Zuhause in Ahrensburg und der Region, in der ihre Familie lebt. Sie machen den Unterschied zwischen einem Leben in Sicherheit und einem Leben in Unsicherheit aus.

Schwester war erst alarmiert, als Reiche das Land verließen

Ihre Verwandten haben gelernt, mit der Situation umzugehen. Für Strus ist es schwierig, sie sagt über sich: „Ich bin ein Mensch der Tat.“ Doch was kann sie aus der Entfernung tun außer zuzuhören? Berichtet ihre Schwester von neuen Entwicklungen, kann sie gemeinsam mit ihr überlegen, was diese in der Konsequenz bedeuten könnten, mehr nicht.

Strus sagt: „Als ausländische Diplomaten das Land verlassen haben, war meine Schwester noch nicht alarmiert. Auch nicht, als es offiziell hieß, dass alle Deutschen nach Hause gehen sollen.“ Aber als sie gehört habe, dass sich die reichsten Ukrainer mit 20 Privatjets auf den Weg ins Ausland gemacht hätten, da habe sie schon vermutet: „Wahrscheinlich haben sie wegen ihrer Kontakte bessere Informationen als wir Durchschnittsbürger.“

Für Notfall werden Papiere, Medikamente und Geld gepackt

„Die Situation ändert sich von Tag zu Tag“, sagt Nataliia Strus. „Irgendwie bin ich zwar noch relativ ruhig, weil ich jeden Tag mit meiner Schwester oder meiner Mutter spreche.“ Aber sie spüre bei diesen Gesprächen auch die Nervosität ihres Gegenübers. „Aber solange nichts passiert, kann man nichts unternehmen“, sagt sie. Dieser Schwebezustand sei schwer auszuhalten. Aber immer noch besser als Krieg.

Ihre Schwester und Mutter hätten Vorbereitungen für den Ernstfall getroffen. Auf Instagram hätten sie gelesen, welche Papiere, Medikamente und dass sie Bargeld einpacken müssten. Sie könne sich vorstellen, dass es Menschen gebe, die aus Panik ihre ganzen Ersparnisse abheben, sagt sie auf Nachfrage, gehört habe sie davon jedoch nichts.

Verwandte hatten Angst, dass der Bruder eingezogen wird

Auch nichts davon, dass Leute ihre Kinder vorsichtshalber aufs Land schickten, zudem gebe es in ihrer Familie keine kleinen Kinder. Doch wo ist es sicher? Nicht alle ihrer Verwandten wohnten in eigenen Häusern mit einem Keller, in dem sie sich verstecken könnten. Aber ihr Elternhaus und das einer Tante und eines Onkels haben Keller, „in die auch viele Vorräte passen“. Sie habe gerade mit ihrer Schwester darüber gesprochen, dass diese im Falle eines Angriffs wahrscheinlich evakuiert werde. Vielleicht würde sie dann versuchen, zu ihrem Elternhaus zu gelangen.

Sie hätten von den Erfahrungen der Leute aus Donezk gehört, dass diese sich vor den Bomben in die Keller gerettet hätten. Weder Nataliia Strus noch ihre Angehörigen haben Kämpfe aus nächster Nähe miterlebt. „Wir waren nicht direkt von den Geschehnissen auf der Krim betroffen, aber wir hatten viel Angst.“ Angst auch um den Bruder, dass er eingezogen werden könnte.

Nataliia Strus’ Ehemann hat einen Krieg direkt miterlebt

Vor zehn Jahren kam die zierliche Pianistin, Komponistin und Klavierlehrerin nach Ahrensburg – wegen der Liebe. Ihren Mann hatte sie bei dessen Besuch bei einem ukrainischen Bekannten kennengelernt. Mit ihm spielt sie gedanklich immer wieder verschiedene Szenarien durch. „Wir überlegen, was wir tun können, wenn der Ernstfall eintritt.“ Sie habe schon Sorgen, aber „ich glaube, mein Mann macht sich mehr Sorgen“. Denn im Gegensatz zu ihr habe er eigene Kriegserfahrungen gemacht.

Wenigstens um ihren Bruder muss sie sich keine Sorgen machen – vorerst. Er ist derzeit beruflich im Ausland. Im Ernstfall würde sie versuchen, ihn nach Deutschland zu holen, um ihn vor dem Krieg zu bewahren, „wenn das nach den geltenden Gesetzen möglich ist“. Denn seine Aufenthaltserlaubnis gilt nur für wenige Monate.

Beim Besuch im Oktober war kein Anzeichen von Krise

„Vor einiger Zeit wurden alle Frauen von der ukrainischen Regierung aufgefordert, sich beim Militär zu melden“, berichtet Strus. Doch das sei nicht weiter verfolgt worden. Ein gutes Zeichen, auch dass ihre Schwester bislang nichts von den Behörden gehört hat. Denn sie ist eine ausgebildete Schützin. „Sie meint, dass die Regierung recht hätte, sie als eine der Ersten mitzunehmen, wenn der Krieg ausbricht.“

In den Herbstferien im Oktober 2021 war die Pianistin zuletzt zu Besuch in der Ukraine. „Da war noch alles ruhig und keine Rede von einem Konflikt.“ Eine mögliche militärische Auseinandersetzung sei so unglaublich, „dass man denkt, so etwas passiert nicht im eigenen Leben“. Sie könne sich überhaupt nicht vorstellen, so Strus, „dass sie im 21. Jahrhundert die Bevölkerung erschießen“. Aber ihre Schwester habe gemeint: „Krieg ist Krieg.“

Es tut gut, mal über die russischen Truppen zu lachen

Auf die Frage, wie die Schwester die Position Deutschlands im Hinblick auf Waffenlieferungen an die Ukraine beurteilt, antwortet Strus: „Davon weiß sie nichts.“ Sie habe nur gehört, dass deutsche Soldaten an der Grenze ständen. „Das fand sie gut.“ Ihre Schwester schaue keine Nachrichten, denn „davon kann man überhaupt nicht schlafen“.

Überhaupt sei ihre Familie gänzlich unpolitisch, betont die Ahrensburgerin. Selbst mit ihrer Schwester bespreche sie das Thema eher auf einer philosophischen Ebene, als über die harten Fakten zu diskutieren. „Alles andere erzeugt zu viel Stress.“ Bei Telefonaten mit ihrer Mutter spricht Strus den Konflikt mit Russland gar nicht erst an. „Sie leidet unter Bluthochdruck. Das würde ihn nur verschlimmern.“ Mit ihrer Schwester kann sie offener sprechen. „Es gibt viele Gerüchte, dann überlegen wir, was stimmen könnte und was nicht.“ Viele kursieren in den sozialen Medien, bei denen die Quellen nicht immer nachvollziehbar sind. „Gerade heute haben wir über ein Video gelacht, auf dem zu sehen war, wie die russischen Panzer im Matsch und Dreck stecken geblieben sind.“ Aber man wisse natürlich nicht, wer das Video für welchen Zweck gemacht habe und ob es authentisch sei.

Mutter hat immer Angst vor Lebensmittelknappheit

Es ist einer der wenigen Augenblicke der Unbeschwertheit, dieses Lachen über einen kleinen Moment des Triumphs gegen einen übermächtigen Gegner. Jeder hat mit der Zeit seine eigene Strategie entwickelt, mit der Gefahr umzugehen, für viele ist Verdrängung der einzige Weg.

Die Schwester habe ihr erzählt, dass die Menschen in ihrer Stadt im Alltag so lebten, als ob alles so sei wie immer. Kinder gingen zur Schule, Erwachsene zur Arbeit. Von Versorgungsengpässen habe sie keine Kenntnis, sagt Strus, zumindest nicht bei Lebensmitteln. „Meine Mutter hat immer Angst davor, aber sie hat sich noch nicht beschwert.“

Putin macht sich in Medien über den Westen lustig

Kürzlich hat sie mit einer Ukrainerin gesprochen, die inzwischen in Moskau wohnt. Diese habe ihr berichtet, dass sich ihre Brüder in der Ukraine keinerlei Sorgen machen würden. Dann habe sie hinzugefügt, dass der eine Bruder, der bei der Polizei arbeite, ganz regulär im Urlaub sei. „Das hat mich ein bisschen beruhigt.“

Ihre Bekannte sei erstaunt gewesen, als Strus ihr von den russischen Manövern an der ukrainischen Grenze erzählt habe. „Sie hat sich gewundert, in Russland wird so etwas nicht in den Medien gezeigt.“ Die Propaganda besage, dass die Russen keinen Krieg wollten. Putin mache sich über den Westen lustig, weil der Gerüchte über angebliche Pläne eines russischen Einmarsches verbreite.

Security stürmt plötzlich mit Gewehren ins Gebäude

Für ihre Schwester sah es vor einigen Tagen so aus, als habe der bereits begonnen. Das war, als Security-Mitarbeiter plötzlich mit Gewehren in das Gebäude gestürmt seien, in dem sie arbeitet. „Alle dachten, jetzt ist der Krieg ausgebrochen.“ Doch das Ganze habe sich als falscher Alarm entpuppt. Ein Moment, in dem die Gefahr erschreckend nah rückte. „Danach lacht man darüber“, sagt Strus. Das Lachen vertreibt die Angst.

Spekulationen sorgen dafür, das sie wieder aufkeimt. „Irgendwo hat meine Schwester gelesen, dass morgen der Angriff sein soll“, sagt die Ahrensburgerin. Das war am Dienstag. Passiert ist nichts. Die aktuelle Lage schätzt sie so ein: „Ich habe kein Gefühl, ich hoffe nur, dass der Konflikt in Ruhe besprochen und ein Kompromiss gefunden werden kann.“ Dabei sei diplomatische Hilfe wichtig. Denn solange es politische Gespräche gebe, gebe es auch Hoffnung.

Die Zuversicht hilft Strus durch den Alltag. Sie sagt: „Wenn ich mit meinen Verwandten rede, bin ich wieder einen Tag beruhigt – bis zum nächsten Anruf.“