Beim künstlerischen Feriencamp Lüttville üben Kinder für einen Auftritt mit Tocotronic. Tobias Galke trainiert mit ihnen eine Choreografie.

Wilhelmsburg. Die 13 Jahre alte Julia aus Wilhelmsburg ist so manchem deutschen Musikstar schon ganz nahe gekommen. Im vergangenen Jahr tanzte sie beim Dockville-Musikfestival in der Bühnenshow des Rappers Marteria und gab ihm anschließend die Hand. In diesem Jahr wird Julia wieder vor etwa 10 000 Menschen tanzen, wenn sie am 12. August zur besten Abendzeit zusammen mit anderen Kindern aus dem Hamburger Süden für einen Song mit der Band Tocotronic auf die Bühne darf.

Von einer Ferienfreizeit in die Bühnenshow von Musikstars katapultiert zu werden - eine derartige Karriere macht in Deutschland wohl nur "Lüttville" möglich: Im künstlerischen Feriencamp des Dockville-Festivals in Wilhelmsburg übt Tanzlehrer Tobias Galke von der HipHop Academy noch bis Sonnabend mit Julia und anderen Jungen und Mädchen aus Wilhelmsburg und Veddel eine Choreografie ein. Den Song "Kapitulation" hat das Tocotronic-Management ausgesucht. Nicht gerade ein Tanzhit, die beliebte Hamburger Band hat schmissigere Songs. Das findet auch Julia: "Das Lied ist nicht für Kinder", sagt sie. Aber Tobias Galke bringt geschickt Freestyle-Tanzschritte mit Indie-Rock zusammen.

+++ Finanzierung von Lüttville ab 2014 ungewiss +++

+++ Lüttville führt auch die Kleinen zur Kunst +++

Dass die "Lütten" des kostenlosen Sommercamps anschließend mit Stars auf die Bühne dürfen, hat längst Tradition bei Dockville. Auch die Kinder aus dem Chor-Workshop bekommen mittlerweile ihren großen Auftritt. Sie werden den Refrain des Songs "Kapitulation" mitschmettern. "Lüttville", die etwas andere Jugendfreizeit in Wilhelmburg, gibt es mittlerweile im fünften Jahr.

Noch nie haben so viele Kinder teilgenommen wie in diesem Jahr. 160 Jungen und Mädchen bedeuten einen Anmelderekord. Zum ersten Mal in seiner Geschichte musste der Verein "Lüttville" Absagen erteilen. 20 Kinder von nördlich der Elbe haben keinen Platz bekommen. Priorität haben die Kinder aus den Stadtteilen südlich der Elbe - hier, wo das Dockville-Musikfestival Fuß gefasst hat.

"Lüttville" will bei Kindern und Jugendliche die Begeisterung wecken, selbst kreativ tätig zu werden. Ein Abenteuer ist es, in einem Film mitzuspielen: Vanessa Nica Müller von der Kurzfilmagentur Hamburg dreht mit Jungen und Mädchen einen fünf Minuten langen Spielfilm. Dabei lernen sie, mit der Kamera umzugehen und die Szenen zu schneiden.

Das Drehbuch haben die Kinder selbst entwickelt. "Nichts ist so, wie es scheint" lautet der Titel des Films - ein Thriller wie von Alfred Hitchcock. Aber auch mit komischen Elementen.

Die Hauptrolle spielt die elf Jahre alte Michelle aus Harburg. In ihrem weißen Brautkleidchen sieht die "kleine Grace Kelly" unschuldig aus wie eine Prinzessin. Bei Hitchcock sind die Blondinen die Heldinnen, die in ein Unglück verstrickt werden. In diesem Streifen ist alles anders. Michelle, der Engel, mimt eine Mörderin. "Ich bin eine verlorene Seele, kurz vor dem Heiraten, die an jedem Rache nimmt", erklärt sie ihre Rolle. Vanessa Nica Müller mag gerade das Unkonventionelle an dem Film, der das Hitchcock-Klischee auf den Kopf stellt. Der Thriller sei aber düsterer geworden als ursprünglich gedacht.

Eine ganz andere Kunst lernen gerade Nino und Christoph. Die beiden Zehnjährigen stehen auf dem Kopf oder schlagen einen Salto oder schwingen die Beine im Scherenschlag. Diese Artistik ist Ausdrucksform der afro-brasilianischen Kampfkunst Capoeira. Sie verbindet kämpferische mit spielerischen und tänzerischen Elementen.

Seit einigen Jahren unterrichtet Vitor Hugo an Hamburger Schulen Capoeira. Vor etwa 600 Jahren hätten Sklaven die getarnte Kampfkunst entwickelt, erklärt er. Plantagenbesitzer und andere Herren gestatteten Sklaven nicht, das Kämpfen zu lernen. Deshalb tarnten die aus Afrika verschleppten Menschen ihre Kampfbewegungen als Tanz. Jedes Kind könne die artistischen Elemente lernen: "Alle sind gleich fähig dazu", sagt Vitor Hugo und lobt den Wilhelmsburger Nino, der gerade einen "Bananeira", einen Bananenbaum, tanzt.

Das künstlerische Feriencamp hat sogar eine eigene Zeitung: Die Reporter der "Lüttville Aktuell" interviewen Künstler und Handwerker, die im Dockville-Kunstcamp Installationen aufbauen, und befragen Workshopleiter. Die Acht-Seiten-Ausgabe erscheint am Sonnabend beim Abschlussfest.

"Lüttville"-Abschlussfest, Sonnabend, 28. Juli, 15 bis 18 Uhr, Dockville-Festivalgelände in Wilhelmsburg, Alte Schleuse 23, Eintritt frei.