Hauptschüler gibt's nicht mehr am Ilmer Barg in Winsen, die Schule wird Oberschule. Und wie sehen die 2012er-Absolventen ihre Zukunft?

Winsen. Es ist nur ein Wort mit elf Buchstaben. Aber der Begriff Hauptschule hat so viel Gewicht, dass viele glauben, wenn es über dem Zeugnis eines Schulabsolventen steht, macht es die Zukunftsaussichten zunichte. Keine Zukunft, keine Chance: Dieser Stempel klebt immer noch an den Hauptschülern wie Dreck.

Deshalb gehen die Schulen und ihre Träger dazu über, die Hauptschulen in Oberschulen umzuwandeln. Die Schule Ilmer Barg in Winsen ist eine davon. Ab Anfang August ist sie nicht mehr Hauptschule, sondern Oberschule mit einem jahrgangsbezogenen Unterricht. Sie nimmt also nicht wie bisher nur Kinder mit Hauptschul-, sondern dann auch mit Realschulempfehlung auf und unterrichtet sie gemeinsam. So wollte es die Schule. So wollte es die Mehrzahl der 93 Jugendlichen, die hier vor einigen Tagen ihre Schullaufbahn abgeschlossen haben. Dabei heißt es in den Arbeitsagenturen derzeit, die Hauptschüler stünden besser da als je zuvor und hätten so hohe Chancen auf einen Ausbildungsplatz wie seit Langem nicht mehr.

Ortstermin am Ilmer Barg zum Schuljahresende in Niedersachsen. An dem Besprechungstisch der Schulleiterin Maren Kuhlmann haben sich sieben von den insgesamt 93 Absolventen versammelt. Drei Schüler dieser kleinen Gruppe, die sich bereit erklärt hat, mit dem Hamburger Abendblatt über Perspektiven für die Zeit nach der Schule zu sprechen, können einen Hauptschulabschluss vorweisen, vier haben die zehnte Klasse besucht und den Realschulabschluss gemacht. In welche Zukunft blicken sie? Was erwartet die Schüler, die gemessen an den wenigen Hauptschulen, die es im Landkreis Harburg noch gibt, so etwas wie eine aussterbende Spezies sind? Und was erwarten sie?

Die sieben Jugendlichen haben konkrete Vorstellungen davon, was sie beruflich machen wollen. Bürokauffrau, Erzieherin, Industriemechaniker, Arzthelferin sind ihre Traumberufe. Die meisten haben Bewerbungen geschrieben, zwar nie mehr als zehn, aber sie haben sich bemüht. Ansonsten sind die Absolventen das, was man von ihnen erwartet: flexibel und mobil. Sie scheuen keine Fahrwege nach Hamburg, und die meisten von ihnen haben einen Plan B in der Tasche, falls der Traumberuf unerreichbar bleiben sollte. Trotzdem: Nur zwei von ihnen wurden überhaupt zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Und am Ende wurde es auch bei ihnen doch nichts: Keiner der Schüler, die hier sitzen, haben einen Ausbildungsplatz ergattert. Die Alternative heißt BBS - Berufsbildende Schule.

Nun muss man dazu sagen, dass es hier um eine kleine Gruppe geht. Sie ist also nicht repräsentativ für die gesamte Schule. Insgesamt sieht das Zukunftsszenario aller Absolventen nach Auskunft der Schulleitung so aus: Ein Drittel beginnt nach der Schule eine Ausbildung, ein weiteres Drittel wechselt zur Berufsbildenden Schule und noch ein Drittel besucht die zehnte Klasse an der Schule in Winsen, um den Realschulabschluss zu machen.

Dass rund 30 Prozent der Schüler in die Ausbildung starten, ist eine gute Quote. An der Hauptschule Stadtmitte in Lüneburg, die als sehr erfolgreich in der Ausbildungsvermittlung gilt, haben auch nicht mehr Schüler eine Lehrstelle ergattert. "Die Zahl der Schüler, die einen Ausbildungsplatz bekommen haben, ist schon deutlich höher als in den vergangenen Jahren", sagt Gudrun Hesse-Giersch, 51, die sich an der Schule Ilmer Barg als Sozialpädagogin um die Vermittlung in den Beruf kümmert.

Aber unter den sieben Schülern, die hier bei der Schulleiterin sitzen, hatte keiner Glück. Vielleicht ist es dieses erste Scheitern, die Unsicherheit . Als das Gespräch auf die Zukunft kommt, entbrennt innerhalb kurzer Zeit eine emotionale Diskussion unter den Schülern. Es fallen Argumente, mit denen sich Hauptschüler und ihre Eltern schon vor Jahren die Zukunft schön malten: Die besseren Noten, von denen sich die Jugendlichen versprechen, sich von Realschülern abheben zu können. Die Unternehmen, die lieber Hauptschüler nähmen, weil sie den Unternehmen treuer seien als Realschüler oder Gymnasiasten.

Doch aus dem Mund der Schulsprecherin Ruken Vural, 17, aus Winsen kommt das Totschlagargument gegen gute Chancen: "Wenn ein Arbeitgeber die Wahl zwischen einem Hauptschüler hat und jemandem, der seine Schullaufbahn an der Realschule abgesessen hat, entscheidet er sich ohnehin für den Realschüler." Deshalb hat sie auch nach den neun Jahren Hauptschule die Klasse zehn besucht, um jetzt ihren Realschulabschluss in der Tasche zu haben. Ob das etwas genützt hat, ist noch unklar. Sie hat sich als Krankenschwester beworben und wartet auf Nachricht. Und sonst? "BBS", sagt sie. BBS, BBS, BBS, heißt es reihum.

Auch für Jannik Pahl, 17, aus Winsen, obwohl er mehrfach zu Einstellungstests geladen wurde. Er möchte Einzelhandelskaufmann werden, am liebsten im Bekleidungsgeschäft. Dreimal wurde er zum Assessment Center eingeladen, wie die oftmals standardisierten Bewerbungsverfahren heute heißen. Und dreimal ist er rausgeflogen. "Die anderen waren besser und älter", sagt er und fügt einen wichtigen Satz hinzu: "Mit unserem Wissen können wir uns als Hauptschüler nicht gegen die anderen durchsetzen, nur mit dem, was wir können und wer wir sind."

Die nachfolgende Schülergeneration soll eine bessere Perspektive haben. Deshalb also jetzt Oberschule. "Allein mit diesem neuen Begriff geht schon eine Aufwertung der Schüler einher", sagt Rainer Runge, Sachgebietsleiter für Kita, Schule und Ordnungswesen bei der Stadt Winsen. Auch für die Stadt hat eine Oberschule Vorteile. "Sie stärkt den Standort. Die Hauptschule ist einfach eine aussterbende Kategorie." Auch Georg Krümpelmann, Pressesprecher des Landkreises Harburg, sieht die Hauptschule als auslaufendes Modell. Das zeige auch die Statistik. 2004 zählten die Hauptschulen im Landkreis Harburg noch 3034 Schüler in den Klassen fünf bis zehn. Vor zwei Jahren waren es nur noch 2363 Kinder.

Eltern machen also einen großen Bogen um die Schulform. Dabei schlagen die Arbeitsagenturen in der Geschichte über die Hauptschüler ein ganz anderes Kapitel auf, in dem von Ausweglosigkeit keine Rede ist. "Die Chancen für Hauptschüler sind so gut wie nie", sagt Susanne Serbest, Pressesprecherin der Arbeitsagentur Lüneburg. "Der Grund: Den Unternehmen fehlen die Fachkräfte, und sie wissen, dass aufgrund des demografischen Wandels immer weniger Menschen in die Berufe dringen und immer mehr Menschen aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden." Also müssten sie sich die jungen Leute sichern. Sonst seien sie gezwungen, Aufträge abzulehnen. "Während die Handwerksbetriebe vor fünf Jahren noch auf Realschüler gesetzt haben, konzentrieren sie sich jetzt auf die Hauptschulabsolventen", sagt Serbest. "Denn Realschüler sind auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr zu bekommen."

So gesehen müsste der Anteil der Hauptschulabsolventen, die nach der Schule eine Ausbildung starten, weitaus höher liegen als nur bei 30 Prozent. Doch die Arbeitsagenturen haben den Eindruck, dass viele Schüler lieber zur BBS gehen als sich zu bewerben. Dabei muss das oft gar nicht sein. "Nicht für alle Berufe ist es nötig, eine Berufsfachschule zu besuchen", sagt Susanne Serbest. "Die BBS ist der bequeme Weg. Viele Jugendlichen denken: Die Schule kenne ich, da weiß ich, was mich erwartet."

Sie appelliert an die Jugendlichen, das zu überdenken. Denn in den Landkreisen Harburg, Lüneburg und Stade gibt es zurzeit zusammengenommen 924 freie Ausbildungsplätze. Bewerbungen könnten sich also noch lohnen.

Die offenen Ausbildungsplätze sind allerdings in den klassischen Handwerksberufen - Fleischereifachverkäufer, Elektroinstallateur, Klempner, Schlachter - zu finden. Solche Berufe, die es selten in die Top Ten der Wunschberufsliste von Jugendlichen schaffen. Am liebsten wollen die Absolventen immer noch Einzelhandels- oder Bürokaufmann, Kfz-Mechatroniker oder Verkäufer werden.

Auch die Sozialpädagogin Gudrun Hesse-Giersch an der Schule Ilmer Barg sagt: "Der Erfolg der Schüler hängt davon ab, wie breit sie sich aufstellen. Ob sie in eine spezifische Branche wollen oder auch für ganz andere Berufe offen sind."

Freie Ausbildungsplätze hin oder her: Die Absolventen der Schule Ilmer Barg glauben, es müsse erst mal der Begriff Hauptschule verschwinden. Dann werde vieles besser. "Die Oberschüler werden sich wohler fühlen", meint Schulsprecherin Ruken Vural. "Es wird dann hier wie auf einer Realschule sein, anstrengend, aber spaßig." Die Schulleiterin Maren Kuhlmann, 46, drückt es so aus: "Die Schüler am Ilmer Barg brauchten sich nicht zu verstecken. Aber ich glaube, die Oberschüler werden sich noch weniger zu verstecken brauchen."