Weit weg von Zuhause: US-Schüler Sebastian Zens (16) aus Wisconsin lebt ein Jahr lang bei Familie Viets. Deren Tochter Lilli (17) geht derzeit in Ghana zur Schule.

Harsefeld. Wenn Sebastian Zens aus dem Fenster seines Gästezimmers sieht, erblickt er Bäume, beschauliche Dachgiebel und die Hintergärten des niedersächsischen Dorfes Ruschwedel. "Typisch deutsche Idylle", nennt der 16-jährige US-Amerikaner das. Ganz anders das Bild, das sich Lilli Viets bietet, wenn sie aus dem Fenster ihrer momentanen Bleibe sieht. Sie schaut auf einen Mangobaum im Garten, weiter hinten steht ein Zaun, der vor Einbrechern schützen soll. Der Garten ist grün, aber auf der Erde liegt roter Sand - "eben Wüstensavanne", sagt die 17-jährige Harsefelderin.

Was die beiden Jugendlichen verbindet? Sie verbringen beide ein Jahr als Austauschschüler im Ausland. Sebastian in dem dörflichen Harsefelder Ortsteil und Lilli in dem westafrikanischen Staat Ghana, in der Stadt Tema. Doch die Schicksale der beiden Jugendlichen sind noch enger verknüpft. Während Lilli in Afrika ist, lebt Sebastian bei ihrer Familie, in ihrem Zimmer in Ruschwedel. Schüler-Tausch auf eine ganz eigene Art.

Wie es dazu kam, erklärt Petra Viets, Mutter und derzeit Gast-Mutter. "Meine Tochter wollte unbedingt ins Ausland, und wir wollten so einen Aufenthalt auch einem anderen Kind ermöglichen. Außerdem dachte ich, so falle ich nicht in eine große Lücke, wenn Lilli weg ist", sagt die aufgeschlossen und patent wirkende Frau, die mit dem 15-jährigen Michel auch einen Sohn hat. Die Organisation YFU, die solche Austausche organisiert, besorgte den Rest: Sie fand einen passenden Gastschüler für die Familie Viets und eine ghanaische Gastfamilie für Lilli.

Der 16-jährige Highschool-Schüler Sebastian, der aus der Stadt Middleton im Bundesstaat Wisconsin stammt, hat sich offensichtlich schon sehr gut eingelebt. Er geht spricht fließend Deutsch, außerdem hat er auch schon eine "europäische Frisur", wie er sagt. "Diese Seitenscheitel, die gibt es bei uns nicht", sagt der höfliche junge Mann, dem in Deutschland als erstes auffiel, dass die Häuser und die Straßen, eigentlich alles, ein wenig kleiner ist als in seiner Heimat.

Seit gut drei Monaten fährt er nun mit dem Fahrrad zur Schule, und zwar zum Gymnasium Harsefeld. Manchmal nimmt er dafür auch den EVB-Regionalzug - wieder etwas, das er so nicht aus seiner Heimat kennt. "Die Infrastruktur ist besser, die Straßen, die Busse und die Züge. Bei uns gibt es auch Eisenbahnen, aber nicht, um Personen damit zu transportieren."

Mit den Straßen ihres Gastlandes hat Lilli auch schon so ihre Erfahrungen gemacht. Die sind nicht immer top in Schuss - dafür bieten sie eine Prise Abenteuer. "Wir fahren hier jeden Morgen mit dem Cho-Cho zur Schule. Das ist ein umgebauter VW-Kleinbus, in dem 18 Menschen sitzen", sagt Lilli, die diesen Weg gemeinsam der 16-jährigen Belgierin Lisbeth antritt, mit der sie sich ein Zimmer im Haus der Gastfamilie teilt. Die Gastschwester der beiden, die 20-jährige Paulina, geht nicht mehr zur Schule.

Die Fahrt zum Lehrinstitut beginnt früh, gegen sechs - und sie führt über Rumpelpisten und Autobahnen. Obligatorisch ist der Stau, den Händler nutzen, um den Autofahrern Dinge zu verkaufen - so ziemlich alles, von der Handy-Prepaid-Karte bis zum Trinkwasser, das in Plastiktüten angeboten wird. In der Schule angekommen, beginnt ein Tag, der von einer gewissen erzieherischen Strenge gekennzeichnet ist. "Discipline and hard work" sei das Motto der Schule, erzählt Lilli. Und das würden die Lehrer auch schon mal in körperliche Züchtigung umsetzen. Ihr sei so etwas aber noch nicht passiert.

Sebastian kann so etwas nicht berichten. Seine Lehrer seien freundlich - eigentlich so, wie er es von der Middleton Highschool kennt. Anders als zuhause, wird nicht in Fachkursen, sondern im Klassenverband unterrichtet. Doch der größte Unterschied ist das Sportangebot. Aktivitäten wie Football, Baseball, Wrestling, Golf und Rugby bietet Sebastians Highschool, sowie Tauchen im eigenen Schwimmbad. Eine Bandbreite, mit der das Harsefelder Gymnasium nicht ganz mithalten kann.

Zuhause spielt Sebastian "Ultimate Frisbee", einen Mannschaftssport, bei dem eine Frisbeescheibe die tragende Rolle spielt. In Deutschland hat er immerhin eine Basketballmannschaft gefunden, nämlich beim TuS Harsefeld.

+++ Ab ins Ausland +++

+++ Jugendliche wollen am liebsten für ein Jahr in die USA +++

Die Freizeitaktivitäten - ja, sie sind ein wenig anders als in Wisconsin. Wie sich die deutsche Landjugend so die Zeit vertreibt, hat Sebastian etwa bei der alljährlichen Ruschwedeler Zeltdisco kennen gelernt. "Für Jugendliche gibt es keine Discos in Amerika. Hier schon, und Bier auch", sagt Sebastian. Ziemlich undenkbar in Wisconsin, wo Alkoholkonsum - wie überall in de USA - erst ab 21 Jahren erlaubt ist.

Ungleich strikter geht es in Lillis Wahlheimat Tema zu. Die Religion und der Kirchgang bestimmen in der mehrheitlich christlichen Gemeinde das soziale Leben. Will ein Jugendlicher einen anderen besuchen, müssen sich zuerst die Familien kennenlernen. Verläuft die Begegnung erfolgreich, kann sich anschließend der Nachwuchs treffen. Ohne Alkohol im Gepäck, natürlich.

Die relative Striktheit steht im Kontrast zur großen Offenheit und Herzlichkeit ihrer Gastfamilie - und der Ghanaer generell, wie Lilli schwärmend berichtet. "Die Menschen sind unheimlich gastfreundlich und nett, dafür sind sie sogar in ganz Afrika bekannt!". So stelle man einem Gast sofort und ungefragt etwas zu Essen und Wasser hin - ablehnen ist unhöflich. Einer von vielen kulinarischen Bräuchen, die ganz anders sind als die deutschen: "Hier wird fast alles zu Brei gemacht. Dazu gibt es fast immer eine scharfe Tomatensoße", berichtet Lilli, die sich gut an die örtliche Küche gewöhnt hat. Nur Rind- und Schweinefleisch, das nicht auf dem traditionellen Speiseplan steht, vermisst sie ein wenig.

Reichhaltig und fleischhaltig sieht es auf Sebastians Teller aus - besonders beim Frühstück, wie er erzählt. Was morgens auf dem Tisch seiner Gastfamilie steht, ist so etwas wie die Erfüllung eines - positiven - deutschen Klischees, wie er sagt. "Ein Riesenfrühstück, mit Eiern, Käse und Wurst. Genau, wie ich es erwartet hatte!", erzählt Sebastian. In zwei Wochen will er sich revanchieren und zum Thanksgiving-Fest ein traditionelles Mahl servieren - Truthahn, Süßkartoffeln und vieles mehr. Einem anderen Fest aus der Heimat ist er, ganz unerwartet, kürzlich begegnet: nämlich Halloween, am 31. Oktober. "Ich dachte, das ist nur eine amerikanische Feier. Mich hat es überrascht, dass die Kinder das hier auch machen. In den Staaten ist es aber noch ein bisschen größer", sagt Sebastian.

Viel könnten die beiden jetzt noch erzählen - über Orte, die sie schon besucht haben, etwa den Nationalpark in Ghana, in dem Hängebrücken durch die Kronen der Regenwald-Bäume führen. Über Schloss Neuschwanstein in Bayern, oder auch über Hamburg, die Stadt, in der die Häuser "besser aussehen als in München", wie Sebastian sagt. Doch die Erfahrungen der beiden Jugendlichen sind so reichhaltig und bunt, dass zwei dicke Bücher nicht genug wären, um sie aufzunehmen.

Vielleicht werden sie sie sich am Ende ihres Auslandsjahres ja einmal mitteilen, was sie erlebt haben. Begegnen werden sich die beiden Exilanten jedenfalls nicht mehr: Sebastian bleibt bis zum 9. Juni in Deutschland Ruschwedel, Lilli kehrt sechs Tage später zurück. Bis dahin bleibt noch etwas Zeit, die Welt zu entdecken.