Stades oberster Ordnungshüter Jens Eggersglüß spricht im Interview über Jugendgewalt im Landkreis Stade und die Gegenmaßnahmen

Stade/Buxtehude. Die Aufnahmen der Überwachungskamera sind so unbegreiflich wie schrecklich. Der 18-jährige Gymnasiast Torben P. prügelt im Berliner U-Bahnhof Friedrichstraße einen 29-jährigen Mann zu Boden und tritt dann auf sein Opfer ein. Der Fall entfachte kürzlich bundesweit die Diskussion um Jugendgewalt neu.

Ein Vorfall aus Buxtehude sorgt dabei ebenfalls für Diskussionen: Ein vermutlich jugendlicher Täter schoss der 41-jährigen Buxtehuderin Britta Wünsche vor ihrem Haus an der Reeperbahn mit einer Schreckschusspistole gegen den Hals. Gibt es mehr junge Täter als früher, gehen sie heutzutage brutaler vor? Polizeidirektor Jens Eggersglüß, Leiter der Polizeiinspektion Stade, sprach mit dem Hamburger Abendblatt über das Thema.

Hamburger Abendblatt:

Kürzlich hat ein Jugendlicher einer Buxtehuderin mit einer Schreckschusspistole gegen den Hals geschossen. Hat die Jugendgewalt im Landkreis Stade zugenommen?

Jens Eggersglüß:

Nein, insgesamt haben wir eindeutig weniger Kriminalität, die von Jugendlichen ausgeht. Im vergangenen Jahr gab es im Landkreis Stade 12 300 Straftaten. In 997 der aufgeklärten Fälle waren die Tatverdächtigen Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren. Das sind fast 400 Taten von Jugendlichen weniger als 2009. Selbst wenn man den demografischen Wandel mit einbezieht und die jugendlichen Straftäter in Relation zur Bevölkerungszahl betrachtet, ist die Zahl zurückgegangen.

Abendblatt:

Wie können sie diesen Rückgang erklären?

Eggersglüß:

Es gibt unterschiedliche Konzepte, die dazu geführt haben. Ein wichtiges ist das Landesrahmenkonzept "Minderjährige Schwellen- und Intensivtäter", das 2009 eingeführt wurde. Intensivtäter sind Jugendliche, die nicht nur eine, sondern deutlich mehr Straftaten begehen. Im Landkreis Stade hatten wir Anfang 2010 fünf minderjährige Intensivtäter, die alle zusammen 255 Taten begangen haben. Nach intensiven Gesprächen mit unterschiedlichen Beteiligten auch außerhalb der Polizei sind diese Jugendlichen inzwischen weitgehend unauffällig.

Zurzeit haben wir zwei Intensivtäter im Fokus, die aber deutlich weniger Straftaten begangen haben. Den Bürgerinnen und Bürgern ist einerseits die Aufklärung von Straftaten wichtig, vorrangig wünschen sie sich jedoch, dass weniger in ihrer Region passiert.

Abendblatt:

In der Regel fühlen sich die Menschen unsicherer, je höher die Zahl der Raub- und Körperverletzungsdelikte ist. Wie haben sich diese Zahlen entwickelt?

Eggersglüß:

Im Jahr 2009 hatten wir im Landkreis Stade 126 Raubdelikte. Davon wurden 19 von Jugendlichen begangen. Im vergangenen Jahr waren es noch 86, davon haben Jugendliche sechs begangen. Der aktuelle Fall in Buxtehude ist schlimm, aber er bildet eine Ausnahme und spiegelt nicht die generelle Qualität der Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen wider. Bei den Körperverletzungen von Minderjährigen haben wir einen Rückgang von etwa 19 Prozent.

Abendblatt:

Woran liegt das?

Eggersglüß:

Wir zeigen deutlich mehr Präsenz im Umfeld von Diskotheken und anderen größeren Veranstaltungen. Dabei führen wir gezielte Kontrollen nach dem Jugendschutzgesetz durch. Wir zeigen, dass wir vor Ort sind und auch einschreiten.

Abendblatt:

Die Zahl der jugendlichen Gewalttäter ist zurückgegangen. Sind die Taten denn brutaler geworden?

Eggersglüß:

Wie auch im aktuellen Fall in Buxtehude, leiden die Opfer unter jeder einzelnen Tat massiv. Da bin ich mir sicher. Aber wir können nicht beobachten, dass die Jugendlichen brutaler geworden sind. Jedenfalls nicht hier in der Region Stade. Leider haben wir ein ganz erhebliches Problem mit Alkohol bei Jugendlichen, insbesondere bei den Gewalttaten. Wir führen deshalb regelmäßig Kontrollen bei Kindern und Jugendlichen durch. Wir haben 2010 gezielt 170 Kinder und 535 Jugendliche kontrolliert, 410 von ihnen waren erkennbar alkoholisiert und 165 mussten nach Hause gebracht oder von ihren Eltern abgeholt werden. Alkoholexzesse sind nach wie vor ein Problem, sodass wir hier auch unseren Schwerpunkt setzen, was Kontrollmaßnahmen und Präsenz angeht.

Abendblatt:

Können Sie den typischen jugendlichen Straftäter beschreiben?

Eggersglüß:

Nein, das ist sehr unterschiedlich. In der Regel sind es jedoch junge Männer. Man kann auch nicht sagen, die Täter kommen aus Problemfamilien. Das geht durch alle Gesellschaftsschichten. Im ländlichen Bereich sind es dann häufig die größeren Veranstaltungen, bei denen es zu Problemen kommt.

Abendblatt:

Wenn Jugendliche erwischt werden, kommt es dann auch zu Übergriffen auf Polizeibeamte?

Eggersglüß:

Es ist leider so, dass es diese Übergriffe gab und noch immer gibt. Sowohl bei Jugendlichen, als auch bei Erwachsenen. Das Hauptproblem sind dabei nicht die Jugendlichen, sondern die jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25 Jahren. Insgesamt hatten wir im vergangenen Jahr 40 Fälle von Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Jeder Widerstandsfall wird von uns automatisch zur Anzeige gebracht.

Abendblatt:

Was passiert, wenn alle präventiven Maßnahmen erfolglos waren und ein Jugendlicher eine Straftat begangen hat?

Eggersglüß:

Bei Erwachsenen ist der normale Ablauf so, dass nach einer Tat Zeugen und Beschuldige vernommen werden. Dann wird das Ganze beweissicher fertiggestellt und zur Staatsanwaltschaft übersandt. Bei Jugendlichen gibt es da eine ganze Menge Möglichkeiten mehr. Das Ziel bei der Verfolgung von jugendlichen Straftätern ist vorrangig, sie wieder auf den richtigen Weg zu bringen und ihnen auch die erforderlich Grenzen aufzuzeigen.

Damit meine ich nicht eine Freiheitsstrafe. Es gibt auch andere Möglichkeiten, wie zum Beispiel den sogenannten Täter-Opfer-Ausgleich. Wenn das Opfer einverstanden ist, bietet man Täter und Opfer die Möglichkeit, zueinander zu finden. Dem Täter soll klar werden, was er getan hat und wie das Opfer darunter leidet.

In Buxtehude sind vier mutmaßliche Tatverdächtige bekannt worden, die Ermittlungen dauern derzeit aber noch an. Ob es am Ende die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleiches geben wird, kann derzeit nicht eingeschätzt werden.

Abendblatt:

Trotzdem werden Jugendstraftaten immer wieder vor Gericht verhandelt.

Eggersglüß:

Das liegt nicht in unserer Macht. Die Polizei übergibt die abgeschlossene Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft entscheidet letztlich, ob es zur Verhandlung kommt oder nicht. Wie bereits dargelegt, behandelt die Polizei jugendliche Straftäter anders als Erwachsene und spricht sich bereits im Vorwege mit der Staatsanwaltschaft darüber ab, sodass es nicht zwingend zur Hauptverhandlung kommen muss.

Wird dennoch verhandelt, entscheiden die Gerichte, in welcher Form die Täter bestraft werden. Auch da gibt es unterschiedliche Möglichkeiten von einer Ermahnung über soziale Arbeiten bis zum Jugendarrest.