Spektakuläre Funde, die die Geschichte geprägt haben. Professor Rainer-Maria Weiss stellt zehn Objekte vor. Heute: das Schädeldach.

Harburg. Vom Sensationsfund zum Kriminalfall - Kaum ein anderes Exponat im Fundus des Archäologischen Museums hat für so viel Aufregung gesorgt und stellt die Forscherwelt immer noch vor ein Rätsel: Es ist das Fragment eines menschlichen Schädeldaches, und für das Museum war es bis vor einigen Jahren eine Art Reliquie der Frühmenschenkunde.

Tausende Besucher aus Deutschland und aus dem Ausland pilgerten zum Museum nach Harburg und betrachteten ehrfürchtig die knöcherne Kalotte mit den deutlich ausgeprägten Überaugenwülsten. Museumsdirektor Rainer-Maria Weiss steht nachdenklich vor der Vitrine. "Es sieht wie der Schädel eines Neandertalers aus. Galt auch lange Zeit als solcher und sorgte dann für Betrugsermittlungen der Staatsanwaltschaft", sagt Weiss und schaut auf die Überreste von - "ja, von welchem Frühmenschen eigentlich", fragt Weiss.

Das Rätseln begann bereits 1973, als ein Hobbyarchäologe das Stirnbein am Elbufer zwischen Hahnöfersand und Cranz fand. Nach Ausbaggerarbeiten tauchte es am Ufer in einem Kieshaufen auf. "Das Fragment ist braun verfärbt und hat relativ scharfe Kanten. Der Schädel hat demnach lange im Wasser gelegen und ist vermutlich bei Elbvertiefungsarbeiten zerstört worden", sagt Weiss. Ein Hamburger Anthropologe ordnete den Fund nach ausführlicher morphologischer Begutachtung als Überrest eines Neandertalers ein. 1980 bestätigte der Forscher Rainer Protsch von Zieten, damals Professor am Frankfurter Institut für Anthropologie und Humangenetik, dieses Ergebnis anhand naturwissenschaftlicher Analysen. Etwa 35 000 Jahre alt sei der Knochenfund und somit definitiv ein Neandertaler, so hieß es.

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Das Helms-Museum hatte seine Sensation. Denn nie zuvor waren so hoch im Norden Überreste eines Neandertalers gefunden worden. Schuld daran ist die letzte Eiszeit, deren Gletscher alle früheren Zeugnisse unter sich begruben und zermalmten. "Es gibt relativ wenige Funde, die Aufschluss über das Leben dieser Frühmenschen geben. Das machte die Sache so spektakulär", sagt Weiss.

Viele Museumsbesucher können sich vielleicht noch an das Ausstellungsplakat erinnern, das den vermeintlich ältesten Hamburger, einen veritablen Neandertaler, zeigte. "Flache Stirn, hohe Überaugenwülste, kräftiger Kauapparat, etwa 1,60 Meter groß, muskulös und mit einem robusten Knochenbau versehen - diese äußerlichen Attribute machten die Neandertaler aus, die 250 000 Jahre lang Europa beherrschten", sagt Weiss. Vor etwa 30 000 Jahren verliert sich ihre Spur. Weshalb sie verschwanden, "darüber wird immer noch spekuliert", so Weiss. Dass sie überhaupt existierten, wurde erst vor 150 Jahren aufgetan. Damals fanden Forscher bei Mettmann im Neandertal Skelettreste, die entsprechende Merkmale aufwiesen.

Der Neandertaler gilt als eine Art Gegenentwurf zum modernen Menschen. Vor 30 000 Jahren trennten sich die Wege des Neandertalers aus der Linie, aus der der Homo sapiens stammt. "Man geht davon aus, dass beide Spezies 50 000 Jahre lang nebeneinander lebten." Was man noch weiß? "Nun, sie sprachen miteinander, pflegten ihre Angehörigen, stellten taugliche Werkzeuge her und kannten Bestattungsrituale", sagt Weiss. Also ist der Neandertaler nach aktuellen Erkenntnissen keineswegs der primitive Höhlenmensch, der grunzend und Keule schwingend durch die Gegend schlurfte. Der Genetiker Svante Pääbo fand 2010 außerdem heraus, dass Europäer heute noch im Gencode ein Stück Neandertaler in sich tragen, etwa ein bis vier Prozent. "Homo Sapiens und Neandertaler haben sich also offenbar miteinander vermischt", sagt der Museumsdirektor.

Während Schädeldach und Neandertaler-Ausstellung für Besucherrekorde im Helms-Museum sorgten, kamen zwischenzeitlich Zweifel an den Untersuchungsmethoden von Forscher Protsch von Zieten auf. Mehrere von ihm untersuchte Funde erwiesen sich als viel jünger als von ihm datiert. Auch das Stirnbein von Hahnöfersand wurde untersucht. Vom C14-Labor im englischen Oxford. Bei der C14-Methode werden Kohlenstoff-Reste in den Knochen analysiert. Jedes Lebewesen enthält auch Kohlenstoff. Solange der Stoffwechsel aktiv ist, gelangt außerdem radioaktiver Kohlenstoff mit der Massenzahl 14, deshalb C14, in den Organismus. Mit dem Tod endet die Aufnahme dieses Kohlenstoffs und der radioaktive Zerfall beginnt.

Weiss: "Demnach ergab sich, dass unser Schädelfragment nur 7500 Jahre alt ist - ein Skandal. Zieten hatte sich also um einige Tausend Jahre vertan". Und das nicht nur bei diesem Ausstellungsstück. Einen anderen Fund aus Binshof-Speyer, Skelettreste einer Frau, datierte der Frankfurter Gelehrte auf 21 300 Jahre - tatsächlich lebte die Dame etwa 1300 vor Christus. Und Zietens ältester Westfale, der angeblich vor 27 400 Jahren unterwegs war, starb um 1750. Diese Falschdatierungen markierten das Ende der Wissenschaftskarriere des damals angesehenen Protsch von Zieten, der in Fachkreisen als Koryphäe auf dem Gebiet der Anthropologie galt, sich mit teuren Uhren schmückte und gerne dicke Havanna-Zigarren rauchte.

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Der Trubel um Zietens Fehleinschätzungen fiel just in die Zeit, als Weiss 2003 seine Stelle als neuer Direktor des Helms-Museums antrat. Aufgebrachte Besucher forderten im Foyer ihr Geld für den Ausstellungsbesuch zurück, und Medien aus aller Welt nahmen sich des peinlichen Themas an - während Weiss als quasi erste Amtshandlung das strittige Schädeldach aus der Vitrine nahm. "Entweder Zieten hat da eine Art mentale Datierung vorgenommen, oder er hat Ergebnisse einfach ausgependelt. Mit fundierter Analyse hat das auf jeden Fall nichts zu tun", so Weiss. Das sahen Polizei und Staatsanwaltschaft genauso. Zieten wurde für seine angeblichen Messergebnisse zur Rechenschaft gezogen. "Das war schlichtweg Betrug", sagt Weiss.

Doch jenseits allen Trubels gilt für den Fund vom Strand bei Hahnöfersand immer noch: "Es ist der älteste Hamburger - ein Mensch aus dem Mesolithikum, das 9600 vor Christus begann. Ein Jäger und Sammler, der aus der Natur schöpfen konnte, ohne sich den Mühen des Ackerbaus unterziehen zu müssen." Allerdings: "So", und Weiss dreht das Knochenfragment hin und her, tippt auf die hervorstehenden Augenwülste, "sieht kein Mesolithiker aus." Also doch ein Übriggebliebener, ein Neandertaler, der irgendwo an der Elbe seine paradiesische Nische gefunden hatte? Noch immer wirft der Fund Rätsel auf. Weiss will den Fragen auf den Grund gehen, den Knochenfund noch einmal analysieren lassen. "Wir wissen noch nicht einmal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte."

Klar ist nur die Skurrilität dieses Falles: "Dieser Mensch hat vor 7500 Jahren bestimmt nicht erahnen können, dass er mal einem schlampigen Forscher das Handwerk legen würde - Science-Fiction für Frühmenschen." Der Menschen Schicksal sei unergründlich, so Weiss, "was sich hieran wieder einmal bewiesen hat."