Im Simulator der Reederei NSB proben Kapitäne Krisensituationen. Was die 1,5 Millionen Euro teure Anlage nicht abbilden kann, ist die Einsamkeit an Bord.

Linkerhand der große Strom, die Elbe. Rechts, so weit das Auge reicht, ein buntes Meer aus gestapelten Containern, der Burchardkai. Und mittendrin, am Atabaskahöft an der Leine, die LT Cortesia der Buxtehuder Reederei NSB (112 Schiffe, rund 4000 Mitarbeiter). 320 Meter lang, 42 Meter breit, mehr als 8000 Container an Bord: Sie ist ein Schiff der Superlative. Auf der Brücke steht der Chef auf dem Schiff, blickt durch die Panoramafenster hinaus auf die Hamburger Skyline am anderen Ufer. Wolfgang Dornbusch, 61, sieht aus wie der Käpt'n aus dem Bilderbuch. Trägt einen dunkelblauen Blazer mit einer Doppelreihe goldfarbener Knöpfe, an jedem Ärmel vier gelbe Streifen und ein gelber Stern. Sein Vollbart ist weiß, der Blick gütig. Gleich beginnt die große Fahrt, gleich wird Dornbusch ablegen.

Genauer gesagt: Er will mal versuchen, ob das so klappt, wie er es sich vorstellt. Einmal wenden mitten auf der Elbe, das kann man doch einfach mal ausprobieren. Ja, Dornbusch kann, er darf, er soll es sogar testen. Das Gute an dieser Mission mit ungewissem Ausgang: Im Falle eines Misserfolgs tendierte der Schaden gen Null. Denn das Elbpanorama draußen ist nicht mehr als eine Illusion, von neun Projektoren fotorealistisch auf eine 270-Grad-Leinwand geworfen. Ebenso wenig real ist die LT Cortesia. Käpt'n Dornbusch - die vier gelben Streifen an seinen Jackettärmeln sind aber echt - steuert an diesem Tag den Schiffssimulator in der Reederei-Zentrale.

Trockenübungen - bei NSB gehören sie zum Alltag. "All unsere Kapitäne und Offiziere kommen zweimal jährlich zu einer Weiterbildung in den Simulator", sagt Unternehmenssprecherin Bettina Wiebe. "Das ist ein Sicherheitsstandard, den wir uns selbst auferlegt haben." Dann proben die Kommandanten kritische Situationen: Beim Einlaufen in einen Hafen herrscht Orkan. Oder das Ruder fällt aus. Oder die Maschine streikt. In so einem Ernstfall müsste jeder Befehl durchdacht sein, jeder Handgriff sitzen.

Der Simulator kann zurzeit Elbe und Weser, die Straße von Dover, den Großen Belt und den Bosporus abbilden, dazu die Häfen von Hamburg, Bremerhaven, Rotterdam, Hongkong, Singapur, Shanghai, Tokio, Yokohama, Bangkok, Leam Chabang, Houston, Long Beach und Sydney.

Diesmal also Atabaskahöft, ein Heimspiel für Käpt'n Dornbusch. Er findet sich auf dem bis ins kleinste Detail originalgetreu nachgebauten Kommandostand sofort zurecht. "Alle Brücken sind nach demselben Muster gestaltet", sagt er. Da ist der große Kreiselkompass in der Mitte. Etwas davor sitzt der Schiffstelegraf, ein großer Hebel, in dessen Namen vergangene Seefahrerromantik mitschwingt. Früher teilte der Kapitän mithilfe dieses Instruments dem Maschinisten mit, wie der Motor eingestellt werden sollte: "Ring ring, volle Kraft voraus." Heute ist der Telegraf eher so etwas wie ein Gashebel, mit dem die Maschine direkt gesteuert wird. Dann gibt es noch zwei Radarbildschirme und zwei Monitore, auf denen allerlei Informationen angezeigt werden. Und natürlich das Steuerrad, das heutzutage weder hölzern und riesengroß ist noch schwungvoll gedreht werden muss. Es erinnert eher an das Lenkhörnchen eines Rennwagens. Eine in Chrom gefasste analoge Uhr wirkt inmitten dieses Hightech-Umfelds so, als sei sie ein bisschen aus der Zeit gefallen.

Wolfgang Dornbuschs Kollege Harald Kupsch, 60, auch er ein Käpt'n mit grauem Bart, hat inzwischen nach einem Handfunkgerät gegriffen, am Steuer steht Kapitän Dieter Zengel, 53. Zu dritt bilden sie an diesem Tag eine Übungsgruppe. Kupsch spricht auf Englisch Befehle ins Funkgerät, Anweisungen an die Kapitäne der Hafenschlepper. Vier davon haben die LT Cortesia an den Haken genommen. Leinen los! Die 180-Grad-Wende auf der Elbe beginnt.

Das geschieht in Zeitlupengeschwindigkeit, kaum wahrnehmbar fürs Auge. Bewegt sich die LT Cortesia schon? "Klar", sagt Käpt'n Dornbusch und deutet aus den Fenstern an Steuerbord. Tatsächlich, zwischen Kaimauer und Schiffswand klafft schon eine Lücke. Das Schiff bewegt sich, Atabaskahöft entfernt sich Meter um Meter und mit ihm die Heimat.

An Bord dauert alles eine gefühlte Ewigkeit. Jedes einzelne Manöver. Und jede Fahrt. Doch so verblüffend realistisch dieser Simulator ist - eines kann er nicht nachempfinden: die Einsamkeit an Bord. Sie fährt immer mit, auch nach mehr als 40 Dienstjahren auf See. "Ist nicht einfach", sagt Wolfgang Dornbusch, "ist wirklich ein Problem." Er blickt stromabwärts, dorthin, wo die weite Welt ist, schweigt, blickt hinunter auf die Wellen, und für einen Augenblick scheint vergessen zu sein, dass auch der Abschied an diesem Tag nur eine Illusion ist.

Wäre diese Fahrt eine echte, lägen vier Monate auf See vor ihm. Vier Monate, in denen er seiner Frau Brigitte, zurückgelassen in einem Dorf bei Bremerhaven, nur E-Mails schriebe, sie vielleicht einmal pro Woche mit dem Satellitentelefon anriefe, während der Liegezeit in einem Hafen auch mal mit dem Handy, dabei nur das Nötigste sagen könnte und doch ein paar Hundert Euro im Monat vertelefonierte. "Man will ja wissen, wie es zu Hause so geht", sagt der 61-Jährige. Am Ende der Reise kehren die Kapitäne dann oft als Fremde zurück. "Dann haben die kleinen Kinder zu Hause gerade einen Entwicklungsschub hinter sich, und man ist nicht dabei gewesen", sagt er. Seine beiden Kinder haben keine Entwicklungsschübe mehr. Sie sind schon über 40.

Käpt'n Kupsch funkt unterdessen immer noch mit den Schlepperkapitänen, die ihre Bugsiere unentwegt an diesem Schiff ziehen lassen, das doch nur eine Illusion ist. Peter Buschulte, 67, ist in ihre Rolle geschlüpft, steuert sie auf seinem Computermonitor mit Mausklicks, antwortet nebenbei den Funksprüchen. Er, auch ein Kapitän, leitet die Übung. Mit seinem Kollege Torsten Iborg, 43, ist er auch an der Entwicklung des 1,5 Millionen Euro teuren Simulators beteiligt gewesen, den NSB 2008 eingeweiht hat.

Zwei Seebären, gestrandet in einem IT-Administratorenraum? Nein, sagt der gebürtige Westfale Iborg trocken. Erstens führen auch sie von Zeit zu Zeit noch hinaus aufs Meer. Zweitens habe er sich den Job im Simulator ganz bewusst ausgesucht. "Ich wollte ja auch sehen, wie meine Tochter groß wird." Die wenigsten Kapitäne fahren heute bis zur Pensionierung. Die meisten gehen mit Mitte 30 an Land.

Buschulte und Iborg haben alle Übungen entwickelt, die der Simulator durchspielen kann. Sie sprechen mit den Kollegen auch über ein Thema, das zunehmend an Bedeutung gewinnt: Ökospeed. "Die Zeiten der Wettrennen über die Weltmeere sind vorbei", sagt Peter Buschulte. Die LT Cortesia zum Beispiel schaffe eine Spitzengeschwindigkeit von 25 Knoten, das sind gut 46 Kilometer pro Stunde. Tatsächlich fahre ein Containerschiff heute kaum noch schneller als 20 Knoten, also 37 Kilometer pro Stunde. "Bei gedrosselter Geschwindigkeit verbraucht so ein Schiff 170 bis 180 Tonnen Schweröl pro Tag, bei Fullspeed sind es 300", sagt Buschulte. Eine Tonne Öl kostet rund 600 US-Dollar. Doch auch das Öko-Tempo kann noch schnell genug sein. Buschulte: "Versuchen Sie mal, das Schiff anzuhalten. Eine Bremse haben wir nicht an Bord."

Mittlerweile ist die LT Cortesia gedreht. Sie wäre auch in der Realität unbeschädigt geblieben. Die große Reise könnte beginnen, stromabwärts und hinaus in die weite Welt. Tut sie aber nicht. Übungsende, Mittagessen. Am Abend wird auch Käpt'n Dornbusch nach Hause fahren zu seiner Frau.