Zwischen Schlücken aus dem Bierkrug redete die 54-Jährige über die Probleme in Deutschland. Ihre Parteifreunde im Kreis interessierte dies offenbar nicht.

Buxtehude. Sie ist seit dem Abtritt von Joschka Fischer vielleicht der größte Polit-Star bei den Grünen: Claudia Roth. Die frech-forsche und nimmermüde Kämpferin aus dem Süden Deutschlands mit dem Faible für geschmackvolle und farblich perfekt aufeinander abgestimmte Kleidung sollte für die Grünen in Buxtehude die Werbetrommel im Bundestagswahlkampf rühren.

Die Bundesvorsitzende kam, sie polterte, sie polarisierte - aber anscheinend interessierte das kaum einen Grünen-Politiker im Kreis. Die glänzten überwiegend mit Abwesenheit, als Claudia Roth am Mittwochabend im Brauhaus das Wort ergriff. Vielleicht war vielen Kreis-Grünen das parallel stattfindende Länderspiel der Deutschen Fußballnationalmannschaft gegen Aserbaidschan einfach wichtiger an diesem Abend.

Die sichtlich gut gelaunte Claudia Roth störte das alles nicht. Schließlich fand die Wahlkampfveranstaltung in einem Brauhaus statt. Damit war für die gebürtige Ulmerin die Welt schon mal in Ordnung - das Bier übrigens auch. Rund 25 000 Kilometer reist die Grünen-Politikerin derzeit quer durch die Bundesrepublik, immer auf der Suche nach den Themen, die die Menschen bewegen und den Wahlkampf bestimmen. 25 000 Kilometer, die sie im Dienstwagen zurücklegt, in dem sie, wie sie mit einem Seitenhieb auf Ulla Schmidt bemerkt, wenigstens selbst sitze.

Was bewegt nun die Menschen? "Es ist schwer, ein eindeutiges Thema zu finden", erzählt sie den rund 60 Zuhörern, die sich an den Tischen versammelt haben, "denn sehr vieles bewegt die Bürger in unserem Land". Versaute Milchpreise seien das eine, die Risiken von Genpflanzen das andere. Die CDU-Mär von kommenden Steuersenkungen störe die einen, der Afghanistaneinsatz der Bundswehr die anderen. Und so hüpft Roth inhaltlich in rekordverdächtigem Tempo von einem Thema immer weiter zum nächsten. Mindestlöhne, Lohnangleichung für Frauen, Atomausstieg, Windkraft, Neonazis, die Asse-Problematik, Sozialverbände, Kohlekraft, heuchlerische Politik von SPD, Linke, FDP und CDU/CSU.

Und sie redet davon, wie Menschen ihr danken, weil sie die Bürger nicht für dumm verkaufe, dass sie nicht nach der Wahl ihre Wahlversprechen brechen würde. "Franz Müntefering sagte einst, dass es unfair sei, Parteien an ihren Versprechen vor der Wahl zu messen", sagt Roth. Das sei eine denkwürdige Aussage - die aber unvorstellbar bei den Grünen wäre. "Wir stehen zu unserem Programm", sagt sie kämpferisch.

Ein Thema liegt ihr aber an diesem Abend besonders am Herzen: das Bildungssystem. Die aktuelle Studie der OECD bringt die Frau in Rage. Die Bundesrepublik habe einmal mehr, so Roth, "die Note sechs" erhalten - ungenügend. Das sei beschämend, sagt sie, die innere Wut ist spürbar. Anscheinend habe in Deutschland niemand verstanden, worum es gehe: Qualifizierte Fachkräfte für die Zukunftsbranchen heranzubilden. Deutschland mangele es an Naturwissenschaftlern, mit der Folge, dass Deutschland dabei sei, seinen Vorsprung in vielen Bereichen der neuen Energien komplett und unwiederbringlich zu verspielen. Applaus. Schluck aus dem Bierkrug.

Das deutsche Schulsystem produziere schlechte Ergebnisse, sei sozial höchst ungerecht. "Gerade einmal 23 Prozent der Studenten in unserem Land sind Kinder von Nicht-Akademikern", sagt sie empört. Zehn Prozent eines Jahrganges blieben ohne Schulabschluss, ohne Berufsabschluss. "Da läuft grundsätzlich etwas falsch", sagt sie und schwingt die Fäuste.

Applaus. Schluck aus dem Bierkrug. Claudia Roth atmet tief durch, verneigt sich, die Jazzband spielt auf. Mission erfüllt. Jetzt geht es mit dem wahlkampftauglichen Dienst-Opel wieder zurück nach Berlin, mental auftanken für die nächsten Termine, informieren über den Stand der Dinge. Das Fußballländerspiel (Endstand 4:0) war übrigens langweiliger als der Auftritt von Claudia Roth an diesem Abend.