Tour über die Elbinsel fand hohen Zuspruch. Das Reiherstiegviertel auf der Elbinsel Wilhelmsburg zieht Studenten, Künstler und Familien an.

Hamburg. Das Reiherstiegviertel im Nordwesten Wilhelmsburgs wandelt sich langsam. Es zieht nicht nur Studenten, Künstler und jetzt auch junge Familien an, die hier - verglichen mit Hamburger "Szenevierteln" wie dem Schanzenviertel und St. Pauli - nach relativ günstigem Wohnraum suchen. Es zieht auch immer mehr Menschen aus der Metropolregion Hamburg an, die vorher noch nie einen Fuß auf die Elbinsel gesetzt haben und sich jetzt ein persönliches Bild von einem Stadtteil machen wollen, der dank der Internationalen Gartenschau (igs 2013) und der Internationalen Bauausstellung im Fokus der Öffentlichkeit steht.

+++ Die Stadtteilserie: Wilhelmsburg +++

Auch die Staatspolitische Gesellschaft hat Wilhelmsburg entdeckt. 75 Frauen und Männer aus der Metropolregion Hamburg nahmen gerade an einer Exkursion durch das Reiherstiegviertel, der Urzelle urbanen Wohnens auf der Elbinsel, teil. Der Stadtteilrundgang mit der promovierten Kulturwissenschaftlerin Susanne Limmroth-Kranz, 55, war so begehrt, dass aus einer geplanten Tour gleich drei Touren wurden, jeweils dreieinhalb Stunden lang.

Die Teilnehmer gehörten überwiegend der Generation "60 plus" an. Die meisten wohnen in vorwiegend bürgerlichen Wohnvierteln der Hansestadt, meist nördlich der Elbe. "Viele nutzen so eine Exkursion, weil sie sich alleine nicht nach Wilhelmsburg getraut hätten", sagt Susanne Limmroth-Kranz.

Kein Wunder: Das Wilhelmsburger Reiherstiegviertel galt lange als Hamburgs "Problem-Kiez", als "sozialer Brennpunkt": mit einem sehr hohen Ausländeranteil von derzeit rund 40 Prozent, einer hohen Arbeitslosenquote, vielen Jugendlichen ohne Schulabschluss. Und: Es ist ein Stadtteil, der südlich der Elbe liegt - und damit weit weg von Hamburg und seinen Entscheidern. "Hamburg hat Wilhelmsburg nach der Sturmflut von 1962 fallen lassen", sagt die Stadtteilführerin den Wilhelmsburg-Besuchern. "Erst Mitte der 70er-Jahre hat die Stadt die Elbinsel wieder in den Fokus genommen."

+++ Wilhelmsburg: Ein Hamburger Stadtteil im Wandel +++

+++ Gelingt die Wiedervereinigung der Stadt? +++

Die Exkursion beginnt am S-Bahnhof Veddel. Mit der Buslinie 13, die die Wilhelmsburger "Die wilde 13" nennen, geht es über die Harburger Chaussee, den Zollzaun - der jetzt langsam geöffnet wird - entlang zum Stübenplatz ins nördliche Reiherstiegviertel. Heftig geht es gleich beim Einsteigen zu: Ein Afrikaner mit Kind im Kinderwagen beschimpft wüst den Busfahrer mit türkischen Migrationshintergrund: "Mach Tür auf, du Idiot!"

Seit ein paar Monaten müssen die Gäste vorne beim Busfahrer ihre Fahrkarten vorzeigen - für Fahrgäste mit Kinderwagen gibt es neben der Mitteltür einen Knopf mit einem Kinderwagensymbol. Daneben ist noch ein anderer Knopf, auf den drückt der Afrikaner. Der Busfahrer schreit, er könne die Tür von seinem Fahrersitz aus nicht öffnen. Der Afrikaner schreit. Schließlich öffnet ein Fahrgast von innen per Knopfdruck die Tür - der Afrikaner schimpft, bis er am Vogelhüttendeich aussteigt.

Das Reiherstiegviertel präsentiert sich den Gästen im Wandel: Viele Häuser aus der Jahrhundertwende am Vogelhüttendeich und in der Fährstraße sind renoviert worden. Aber noch warten manche Häuser auf eine Auffrischung. Noch gibt es hier einen Mix, den kein anderer Hamburger Stadtteil zu bieten hat. Einen Mix aus türkischen Lebensmittelläden, Kiosken, Handy-Shops, türkischen Klubs, in denen sich nur Männer treffen, Kneipen und wenigen, alteingesessenen Läden wie Eisen-Jens an der Veringstraße. Männer türkischer Herkunft sitzen an diesem Vormittag vor einem Café und trinken Kaffee. Vor den zahlreichen Kiosken im Reiherstiegviertel ist noch nichts los: Hier beginnen die Trinker- und Plauder-Treffen meist erst am frühen Nachmittag. Offiziell dürfen die Biertrinker nicht mehr vor den Kiosken trinken, aber die meisten Kioske scheren sich nicht darum. Hauptsache, die Kundschaft zahlt oder begleicht den "Zettel" zum Monatsanfang.

Dass Investoren den Braten in Wilhelmsburg schon seit längerem gerochen haben, verdeutlicht ein Mietshaus am Vogelhüttendeich, Ecke Hans-Sander-Straße. Hier möbelt das Immobilien-Unternehmen Bauwerk Hamburg einen Backstein-Altbau auf, der schon ein Jahrhundert auf dem Buckel hat. Das Treppenhaus hat schöne Fliesen, Handwerker arbeiten die Holztüren auf. Das Unternehmen hofft auf die Gentrifizierung, die Aufwertung des Viertels. "90 Prozent der 36 Wohnungen wird an Neumieter vermietet", sagt Geschäftsführer Michael Huggle. Der Netto-Kalt-Mietpreis beträgt 9 bis 10 Euro und liegt damit über dem Mittelwert des Mietenspiegels von 8,23 Euro. Die meisten Mieter im Viertel zahlen - noch - unter diesem Mittelwert.

Die Informationen auf der Homepage sprechen für sich: "Bauwerk Hamburg hat sich mit 60 Mitarbeitern auf die Entwicklung und Bebauung von innerstädtischen Grundstücken spezialisiert. Für die Entwicklung von attraktiven Wohnimmobilien kaufen wir Hinterhöfe mit Altsubstanz, unbebauten Grund, Garagen und Bunker. Auch Zinshäuser, Dachböden oder stillgelegte Gewerbebetriebe sind willkommene Projekte. Zinshausverkäufer bringen wir erfolgreich ins Geschäft. Gern bewerten wir Ihr Haus unverbindlich und vertraulich, damit Sie wissen, mit welchem Kaufpreis Sie rechnen können. Unsere exzellenten Kontakte zu seriösen Investoren aus Dänemark, Norwegen und England sichern Ihnen derzeitig Spitzenpreise und eine reibungslose Abwicklung."

Doch nicht allerorten wird die Aufwertung des Reiherstiegviertels vonstatten gehen. Viele Wohnungen gehören dem städtischen Wohnungsunternehmen Saga-GWG und Genossenschaften wie dem Bauverein Reiherstieg. Sie reizen auch bei Neuvermietungen den Mietenspiegel oft nicht sofort voll aus.

Von der Tradition des sozialen Wohnungsbaus zeugt eine Aufschrift aus Metalllettern auf einer Häuserwand an der Fährstraße, Ecke Bauvereinsweg: "Sozialer Wohnungsbau heißt: Ohne Gewinnabsicht bauen." Der Satz stammt von Erich Klabunde (1907 - 1950), einem Hamburger Journalisten und SPD-Bürgerschafts- und Bundestagsabgeordneten.

Aber nicht nur Hamburger Wohnungsunternehmen hoffen auf Gewinne in Wilhelmsburg, sondern auch türkischstämmige Unternehmer wie der Herr am Vogelhüttendeich. Er wohne in Neumünster und investiere "in ganz Deutschland" - auch in die Renovierung seiner vier Jugendstilhäuser am Vogelhüttendeich. Großes hat der Unternehmer, der seit 32 Jahren in Deutschland lebt, vor. Im Innenhof will er Häuser abreißen lassen. Dafür soll ein Hotel mit 32 Zimmern entstehen.

Es kommen dank der Internationalen Bauausstellung (IBA) auch ganz moderne Bauten ins Reiherstiegviertel. Bauten wie das "Open House" am Vogelhüttendeich. "Wohnen am Ernst-August-Kanal" steht auf einer IBA-Info-Stele. Und das heißt: Wohnen ganz ökologisch. Auf dem Dach der weiß geputzten Häuser steht eine Solaranlage. Ein Blockheizkraftwerk erzeugt auf Basis einer Holzpellets-Feuerung Wärme, Heizenergie, Warmwasser und Strom. Eine "Passivhaus-Fassade" sorgt für geringen Energieverlust.

Die Erstellungskosten lagen bei 2600 Euro pro Quadratmeter. Die Mietkosten für diesen Neubau liegen - je nach Einkommen - bei 5,60 bis 6,80 Euro kalt pro Quadratmeter; nach solchen Preisen muss man in Hamburg lange suchen. 32 Wohnungen im West- und Ostflügel sind geförderte Mietwohnungen der Wohnungsbaugenossenschaft Schanze und der Baugemeinschaft Schipperort. Die steg Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft Hamburg hat im Südflügel sieben frei finanzierte Stadthäuser, fünf Dachlofts und eine Maisonettewohnung bauen lassen - hier wohnen Menschen, die mehr Geld als der Durchschnitts-Wilhelmsburger haben.

In Wilhelmsburg zu leben, kann sich keiner der bürgerlichen Exkursionsteilnehmer an diesem Vormittag vorstellen. "Aber ich bin überrascht, wie viel alte Bausubstanz hier noch steht", sagt ein Mann aus Niendorf. "Und wie bunt es hier ist", sagt ein Mann aus Wedel. Menschen aus über 60 Nationen leben im Reiherstiegviertel.

Zwei Teilnehmer sagen unverblümt, Wilhelmsburg sei kein Ort für sie zum Wohnen, "weil hier zu viele Ausländer leben".

Die Stadtteilführerin erklärt den Hamburgern, dass das Reiherstiegviertel schon immer ein Migrationsstadtteil war: Ende des 19. Jahrhunderts kamen Polen, als Polen von der Landkarte verschwunden war - der Vogelhüttendeich wurde im Volksmund "Klein Warschau genannt" -, nach dem Zweiten Weltkrieg viele Italiener und Portugiesen.

Das Wilhelmsburger Reiherstiegviertel, das wird an den Industriebauresten der Martin Merkel KG am Veringkanal klar, war lange Industriestandort und Wohnort.

Ein Jahr nach Gründung der Wollkämmerei 1889 arbeiteten 1000 Menschen, die meisten aus Polen, in dem Betrieb - in den 20er-Jahren waren es 2000 Menschen. Es gab auch noch eine Kokerei, eine Teerfabrik, zwei chemische Werke, ein Zinnwerk und ein Asbest- und Gummiwerk.

Diese Industriegeschichte im Reiherstiegviertel ist fast Vergangenheit. Heute gibt es im Reiherstiegviertel ein "Weltquartier", in dem 1700 Menschen aus 30 Nationen wohnen - ein Quartier, das die Saga-GWG gerade für rund 100 Millionen Euro aufpäppelt. Und es gibt ein "Veringeck", in dem deutsche und türkische Senioren gemeinsam unter einem Dach wohnen. Wenn sie entspannen wollen, können die Alten gemeinsam in einen Hamam gehen.