Auf der Elbinsel Wilhelmsburg entscheidet sich, ob Hamburg zusammenwächst - oder ob die Metropole weiter zerreißt

Hand aufs Herz - wann waren Sie das letzte Mal in Wilhelmsburg? Und zwar nicht mit dem Auto über die Wilhelmsburger Reichstraße gerast, sondern zu Fuß beispielsweise über die Veringstraße gebummelt? Wann waren Sie in Billstedt, auf der Veddel oder in Steilshoop? Wenn Sie mit den Achseln zucken und tief in der Vergangenheit buddeln müssen, sind Sie vermutlich typische Bürger dieser Stadt. Bürger Hamburgs, deren Stadt oft von (Norder-)Elbe und Alster begrenzt wird. Für viele ist das keine große Sache, für eine Stadt ist es sehr wohl eine.

Auch wenn es "bessere" und "schlechtere" Viertel in allen Metropolen gibt, ist Hamburg besonders gespalten. Und einige Hamburger haben allen Grund, sich schlecht behandelt zu fühlen. Die Steilshooper etwa warten bis heute auf einen funktionierenden Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr; nach Billstedt verirrten sich viel zu lange Journalisten nur für plakative Sozialreportagen. Und besonders die Bewohner der Elbinseln müssen sich in den vergangenen Jahren wie Aschenputtel gefühlt haben: Infolge der verheerenden Sturmflut von 1962 wollte die Politik den Stadtteil auf der Insel als Lebensraum de facto aufgeben - er wurde reduziert zur Hafenerweiterungsfläche, zum Standort für Kraftwerke, Mülldeponien, Raffinerien, Verkehrsadern. Wilhelmsburg war erste Adresse für alles, was nördlich der Elbe unerwünscht war. Im Süden wuchsen das Unkraut und später völlig überdimensionierte Großsiedlungen, dort fanden sich die sogenannten A-Gruppen auf dem Abstellgleis wieder: arm, arbeits- und ausbildungslos, ausländisch.

Die größte europäische Flussinsel, einen Steinwurf von der City entfernt, entrückte in der Vorstellungswelt der Nordelbier zu einer No-go-Area am Ende der Welt. Für viele Hamburger ist Wilhelmsburg noch immer weit weg - liegt irgendwo zwischen Tirana und Kaliningrad. Ohne Flachs sagen Hamburger, südlich der Elbe beginne der Balkan. Lustig ist das nicht.

Doch es bewegt sich was. Den Anstoß machte die Politik, vor allem unter der Ägide von Stadtentwicklungssenator Michael Freytag (CDU). Langsam bröckelte die Mauer in den Köpfen - und der "Sprung über die Elbe" wird zum Satz, der ankommt.

Möglich machen das Investitionen von Hunderten von Millionen Euro. Nach "Willyburg", wie der Stadtteil von seinen jungen Bewohnern genannt wird, fließen zwischen 2009 und 2015 rund 250 bis 300 Millionen Euro öffentlicher Investitionen, hinzu kommen private Investitionen in doppelter Höhe. Verdammt viel Geld, aber eine Wette wert. Aschenputtel kommt auf die Schönheitsfarm.

Die Internationale Bauausstellung IBA macht die Elbinsel zur architektonischen Sehenswürdigkeit, zur Spielwiese für die Stadt der Zukunft. Hier herrscht ein Aufbruchsgeist, der an die 70er-Jahre erinnert, als die öffentliche Hand noch generös gab. Eine Kletterhalle ist schon fertig, das Haus des Waldes, die Schwimmhalle und ein Hotel entstehen. Und dies inmitten eines Parks, der vielleicht bald in einem Atemzug mit Planten un Blomen, Jenisch- oder Stadtpark genannt wird: Die Internationale Gartenschau (igs) verspricht nicht weniger als eine Entdeckungsreise "in 80 Gärten um die Welt".

Ob diese Investitionen im Inselsand versickern oder die Stadt im besten Sinne weiterentwickeln, entscheidet sich im kommenden Jahr, wenn die igs ihre Pforten öffnet und die IBA Bilanz zieht. Viel wird davon abhängen, ob die alteingesessenen Wilhelmsburger den Wandel als Chance begreifen oder sich der "Aufwertung" und "Gentrifizierung" verweigern.

Auch wenn "Aufwertung" angefeindet wird, sie ist das Ziel dieses Stadtaufbaus: Es geht darum, neue, neugierige Menschen auf die Insel zu locken, ohne zu verdrängen.

Letztlich werden alle Hamburger über Erfolg oder Misserfolg entscheiden: Stellen wir uns der Herausforderung Wilhelmsburg? Begreifen wir Bauausstellung und Gartenschau als unser Ding und nehmen die soziale Wirklichkeit in Wilhelmsburg endlich wahr, statt sie weiter auszublenden? Sind die Bewohner der vermeintlich "schönsten Stadt der Welt" überhaupt bereit, ihren Horizont zu erweitern? Avanciert etwa das Wilhelmsburger Wasserwerk am Kurdamm, per Fähre vom Jungfernstieg erreichbar, zum Ausflugsziel - oder endet der Sprung über die Elbe schon im Alsterpavillon? Gehen wir auf Entdeckungsreise oder lassen wir die Insel links liegen? Gelingt die Wiedervereinigung der gespaltenen Stadt?

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne "Hamburger KRITiken" jeden Montag Hamburg und die Welt