Bundeswehr-Hauptmann Jens Ritter aus Harburg berichtet von seinen Erlebnissen in Afghanistan. Vieles vom Kundus ist ihm bis heute fremd geblieben.

Harburg. Gelber Steppenstaub, das teppichklopferartige Geräusch, das amerikanische Kampfhubschrauber beim Landeanflug von sich geben und um Wasser bettelnde Kinder: Es gibt Eindrücke, die den Harburger Jens Ritter, 34, nicht mehr loslassen. Ritter ist Offizier bei der Bundeswehr, bei einer Fernmeldeeinheit in Rotenburg stationiert und war von Juli 2011 bis Januar 2012 im Rahmen eines Auslandseinsatzes im Bundeswehrlager nahe der nordafghanischen Provinzhauptstadt Kundus. Sein Auftrag: "Zu meinen Aufgaben gehörte es, afghanische Soldaten auszubilden, aber auch, Versorgungskonvois der afghanischen Truppen durchs Land zu begleiten", sagt er. Was er dabei erlebt hat, berichtete er dem Abendblatt. Seit vier Jahren ist er Kompaniechef in Rotenburg. "Einige meiner Soldaten waren bereits vor mir in Kundus. Ich wollte verstehen, wie es ihnen dort ergangen ist", sagt er.

Angst, zu Schaden zu kommen, hatte der Familienvater im Vorfeld seiner Reise nicht. "Angehörige der Fernmeldetruppe werden nicht für Gefechtseinsätze herangezogen. Das hatte mich und meine Frau zunächst beruhigt." Denn schließlich wollte der Vater zweier kleiner Kinder heil nach Hause kommen.

Doch Ritter begriff schnell, dass der Aufenthalt alles andere als einfach zu bewältigen war. Die Angst vor Anschlägen der Taliban war immer präsent. Im Lager, in dem sich 1500 Soldaten, nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Belgien, den Niederlanden und den USA befanden. Im Afghanen-Lager, in dem sich Ritter jeden Tag aufhielt. Und wenn der 34-Jährige mit seiner Truppe einen Konvoi der Afghanen quer durchs Land begleiten musste. Da war er froh, dass sich der deutsche Stützpunkt seit 2006 in Flughafennähe befindet. "Dort ist auch eine amerikanische Hubschrauber-Einheit stationiert.

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Die Deutschen unterhalten keine eigene Hubschrauber-Staffel in Afghanistan. "Wir wussten, dass die Amerikaner uns aus jeder Horror-Gefahrenlage rausfliegen würden, wenn wir sie rufen. Wenn wir tagsüber erfuhren, dass die nicht starten konnten, sind wir gar nicht erst rausgefahren", sagt der 34-Jährige. Der Frieden, den die weite Steppe und das Bergpanorama vermittelten, war trügerisch. "Mit Anschlägen mussten wir immer rechnen. Immer."

Hoffnungen, die Ritter vor der Reise hegte, vielleicht den Alltag der Menschen am Hindukusch ein wenig kennenzulernen, legten sich deshalb schnell: "Das funktionierte aufgrund der Sicherheitslage nicht", so Ritter. Schon der kurze Weg vom Flughafen zum Stützpunkt wird von Betonmauern begrenzt. Verschleierte Frauen mit ihren Kindern, Männer auf dem Weg zu einem Brunnen, Berge und das grüne Tal bei Kundus - den Hindukusch sah Ritter für gewöhnlich nur hinter Panzerglas. So auch während seiner drei Tage dauernden Konvoi-Fahrt, die ihn einmal quer durchs Land nach Kabul führte. "Mir war schon mulmig, als die Afghanen auf einer Etappe eine Pause machen wollten und es nicht weiterging. An sich sieht man zu, dass man so schnell wie möglich ohne Hindernisse vorankommt", so Ritter. Denn nur allzu leicht hätten er und seine Kameraden das Ziel eines Anschlags werden können. "Alles ging gut. Ich war froh, als sich der Zug wieder in Gang setzte."

Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen - so schwebt über dem Camp ein Zeppelin der Amerikaner, bestückt mit Geräten, mit denen die Gegend überwacht wird - kann es selbst im Lager zu brenzligen Situationen kommen: So wurden im November Mörser-Granaten auf das Camp abgefeuert. "Glücklicherweise schlugen die Geschosse nicht bei uns ein, so wurde niemand verletzt", so Ritter.

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Wenige Kontakte zu Einheimischen konnte Ritter bei seinen Visiten im Lager der Afghanen knüpfen. Dort wurde ihm ein afghanischer Major zugeteilt. "Diesen Mann fand ich auf Anhieb sympathisch. Er hatte bereits Militär-Erfahrung bei den russischen Truppen gemacht, die in den 80er-Jahren aus Afghanistan abzogen. Bestimmte organisatorische Fragen und eine gewisse Grunddisziplin waren ihm nicht fremd", so Ritter. Bei den Mudschaheddin, den Kämpfern, die von Stammesfürsten regiert werden, sei es schwieriger, Bundeswehr-Know-how zu vermitteln. Ritter: "Die haben ein eher spontanes, intuitives Verhalten, auf Gefahren zu reagieren. Vieles, was für unsere Soldaten selbstverständlich ist, etwa Bevorratung und Reparatur von Fahrzeugen und Technik, ist für viele Afghanen Neuland." Viele würden auch gar nicht einsehen, sich um die Instandhaltung des Fuhrparks zu kümmern. "Die Amerikaner haben Unmengen von Ausrüstung zur Verfügung gestellt. Wenn da etwa ein Lkw kaputtgefahren wird, stellen die Afghanen das schadhafte Fahrzeug einfach auf einem Parkplatz ab und steigen in ein neues ein." Da müsse noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden, "denn die Ressourcen sind ja endlich, das müssen die Leute dort begreifen."

Und das sei auch ein Mentalitätsproblem. "Die schauen sich schon genau an, wen sie akzeptieren und wen nicht", so Ritter. "Wenn du erzählt hast, dass du zu Hause verheiratet bist, Kinder hast und an Gott glaubst, war alles in Ordnung. Doch viele junge Kameraden haben noch keine Familie. Die wurden von den Afghanen nicht ernst genommen", so Ritter. Ein gewaltiges Problem war die Korruption. "Es kam häufig vor, dass Militärfahrzeuge ausgeschlachtet wurden und die Ersatzteile auf dem Basar verkauft wurden. Das geht gar nicht", meint Ritter.

Oft diskutierte er darüber mit seinen Kameraden in den wenigen ruhigen Stunden, die ihm im Lager blieben. Anfang 2000 als Provisorium geplant, befinden sich nun auch feste Baracken auf dem Gelände. Ritter teilte sich sechs Monate lang einen Wohncontainer mit einem Kameraden. Um einfach mal abzuschalten, trieb er Sport und schrieb Briefe nach Hause. "Klar ist Heimweh ein Thema", sagt Ritter. Besonders an Weihnachten, als Verteidigungsminister Thomas de Maizière Glühwein und Christstollen für seine Soldaten einfliegen ließ, sei die Stimmung alles andere als festlich gewesen. "Eine schöne Geste, aber es war schon hart, die Feiertage ohne meine Kinder fern der Heimat verbringen zu müssen."

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Obwohl das raue Klima am Hindukusch ihm mit viel Schnee eine weiße Weihnacht bescherte. "Die Pracht war aber wenige Stunden später wieder abgetaut", sagt er. Ritter hatte niemals zuvor Erfahrungen mit extremen klimatischen Bedingungen gemacht. "Das waren ab und zu große Temperaturunterschiede, die sich an manchen Tagen innerhalb von Stunden ergaben. Schnee am Morgen, heiter bis wolkig und mäßig warm am Nachmittag, das schlaucht." Wetterwechsel kündigten sich meist durch starke Sandstürme an. Stürme, die den Himmel, so Ritter, seltsam orange einfärben und alles mit einer Schicht Wüstensand bedecken. Meist wurden dadurch auch Skorpione aufgescheucht vor deren Begegnung sich die Soldaten hüteten.

Er war froh, im Januar wieder nach Hause zu kommen. "Es war eine interessante Erfahrung, die ich nicht missen möchte", so Ritter. Doch vieles in Afghanistan sei ihm fremd geblieben und mit seinen europäischen Maßstäben einfach nicht zu messen. Die aktuellen Nachrichten aus Afghanistan machen ihm Sorgen. Ende 2014 sollen viele der derzeit 130 000 Soldaten aus 51 Nationen aus Afghanistan abgezogen werden. Bis dahin sollen die einheimischen Truppen so gut ausgebildet sein, dass sie ohne Hilfe von außen mit Terror und Kriminalität fertig werden können. Ritter sagt: "Ich wünsche es ihnen." Den Fremden am Hindukusch, deren Leben ihm so fern ist.