Pinneberg

Mysteriöse Puppenteile auf Acker – was dahintersteckt

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Kurios: Seit Oktober findet Dieter Freitag immer wieder Porzellanstücke auf dem Pinneberger Rehmenfeld.

Kurios: Seit Oktober findet Dieter Freitag immer wieder Porzellanstücke auf dem Pinneberger Rehmenfeld.

Foto: Laura Kosanke

Seit der Maisernte tauchen auf einem Pinneberger Feld immer wieder seltsame Fundstücke auf.

Pinneberg. Wildgänse schnattern, dann starten sie zum Flug. Unter sich lassen sie das Rehmenfeld, einen kahlen Acker in Pinneberg mit vertrockneten Maishalmen, auf dem ein seltsames Geheimnis schlummert. Denn seit einiger Zeit tauchen dort zerbrochene Puppenkörper aus Porzellan auf. „Es begann mit einem Ärmchen, dann folgte das zweite und das dritte“, sagt Dieter Freitag, der die Teile gesammelt hat. „Die Hand habe ich auch bald gefunden“, so der Hobbyarchäologe aus Pinneberg.

Später hat er noch mehr entdeckt: einen bemalten Stiefel, ein paar Puppentorsos und Beinchen mit einer Nut – auch „Einkerbung“ genannt. Insgesamt 27 Puppenteile hat Freitag inzwischen vom Boden aufgelesen, doch keines passt zum anderen. Sie stammen von unterschiedlichen Figuren. Ein Rätsel.

Gehören die Funde zum „Hamburger Schiet“?

Doch Hobbyarchäologe Freitag hatte eine Idee. Die Bruchstücke könnten vom „Hamburger Schiet“ stammen. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sei dieser „Schiet“ im heutigen Pinneberger Umland entleert worden. Das wäre zumindest eine Erklärung für die verstörenden Funde. „Der Abfall aus der Hansestadt ist als Dünger für die Baumschulen genutzt worden“, sagt er.

Täglich seien bis zu 20 Waggons mit Dung aus Hagenbecks Tierpark, Pferdemist von der Trabrennbahn, Straßenschmutz und Abfällen aus Altona eingetroffen. Das hat Freitag, ein 79 Jahre alter Mann mit Basecap und Brille, recherchiert. Unterstützt wurde er von Bekannten, „Helferkollegen“, wie er sagt, mit denen er schon bei archäologischen Ausgrabungen in der Region geholfen und alte Mauern freigelegt hat.

Und tatsächlich: Die Gruppe aus Hobbyarchäologen behält recht! Ausgrabungsleiterin Janna Kordowski vom Archäologischen Landesamt Schleswig-Holstein bestätigt die Pinneberger Schiet-Theorie. „Das sind Haushaltsabfälle. Es kann sein, dass eine ganze Sammlung weggeworfen wurde und mit einer Abfallfuhre auf dem Rehmenfeld gelandet ist“, sagt sie.

Porzellanteile stammen aus der Zeit um 1900

Der Ausgrabungsleiterin zufolge ist es nicht ungewöhnlich, Porzellan auf Feldern zu finden. „Keramik ist das Haltbarste, was wir besitzen – manche Teile sind mehrere tausend Jahre alt. Es baut sich nicht einfach ab. Deshalb datieren wir auch über Keramik.“ Das gilt auch für die zerbrochenen Porzellanteile auf dem Rehmenfeld. Sie stammen aus der Zeit um 1900.

Die Köpfchen, Ärmchen und Füßchen gehören demnach zu Badepuppen, die von Mitte des 19. Jahrhunderts bis ins frühe 20. Jahrhundert hergestellt wurden. „Reine Massenware und sehr beliebt“, sagt Kordowski. Die Figuren seien sogar aus Deutschland in die USA exportiert und dort „Penny Dolls“ genannt worden, weil sie so günstig waren.

Penny Dolls, Scherben und Flaschenverschlüsse sind Funde

Der Pinneberger Finder hat seine ersten „Penny Doll“-Teile im Oktober entdeckt. Es sind aber nicht nur Penny Dolls, die Freitag beschäftigen. Auch Flaschenverschlüsse finden einen Platz in seiner Sammlung. Andere Scherben bleiben auf dem Feld zurück. Und das sind viele. Alle paar Meter ragen kleine Porzellanscherben aus dem Boden. Mit Stöcken hat der Hobbyarchäologe markiert, wo er bereits gesucht hat. Damit er die Scherben, die er schon gesichtet, aber ausgemustert hat, nicht zweimal beäugt.

Freitag vermutet, dass noch mehr Scherben im Boden stecken. Dass das Feld umgewälzt werden müsste – beispielsweise bei der Einsaat –, um mehr Teile zum Vorschein zu bringen. Dabei könnte das Porzellan in noch mehr Teile zerbrechen, denn der Boden wird mit schwerem Gerät gelockert. „Mit so hohen Rädern“, sagt Freitag und hebt seine Hand auf Brusthöhe. Er hofft sehr auf das Frühjahr und darauf, dass er nach der Einsaat weitere Schätze findet.

Dieter Freitag ist an der „Historie“ interessiert

Auch Ausgrabungsleiterin Kordowski ist sich sicher, dass ein erneutes Pflügen mehr Abfälle zum Vorschein bringen würde. Deshalb ist sie an einer Begehung auf dem Rehmenfeld interessiert. Als Spezialistin für Funde aus der Neuzeit fallen die gefundenen „Penny Dolls“ und Flaschenkorken in ihr Ausgrabungsgebiet. Ob das Feld von Kordowski und ihrem Team begangen wird, ist aber offen. „Es ist schwierig, wenn das Feld im Privatbesitz ist. Da müssen sich beide Seiten abstimmen“, sagt sie. Sicher ist, dass Pinnebergs Hobbyarchäologe das Rehmenfeld weiterhin mit Argusaugen im Blick behält.

Tagein, tagaus radelt Dieter Freitag zu Trampelpfaden, lässt das Rad stehen und läuft zu Fuß weiter. Doch sein Hobby ist das nicht. Das macht er für seine Gesundheit. Als er aber im Oktober die erste Penny Doll sichtet, wird aus der Pflicht ein Vergnügen. Denn beim Gang über das Rehmenfeld taucht der Pinneberger in die Welt der Geschichte ab. „Ich finde es magnetisch, dass ich dort etwas sammeln kann“, sagt Freitag. Das ist sein Hobby.

Wieso? Der Hobbyarchäologe ist an der „Historie“ interessiert, hat ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein. Er sagt, vor seinem ersten Fund auf dem Rehmenfeld sei der Acker „ein weißer Fleck“ gewesen, aus dem „ein Farbfleck“ werden kann – und zwar wegen seiner, wie er sie nennt, „Fundstücke“.

Aus manchen Fundstücken wird Rubbish Art – Müllkunst

Die schönsten verwahrt er in seiner Gartenstube. Dinge, die er an Stränden, auf Feld- und Waldwegen gesammelt hat, zum Beispiel Hühnergötter. Kleine, steinerne Talismane mit einem natürlichen Loch. Weil er so begeistert vom Boden und besonderen Formen ist, nimmt Freitag auch Hölzer, Steine und Müll mit nach Hause, steckt sie zur „Rubbish Art“, also zur „Müllkunst“, zusammen. Manche Kunstwerke verschenkt er auch weiter: In seinem Lieblingshotel in Ahrenshoop (Mecklenburg-Vorpommern) steht etwa ein Müllschiffchen. Es besteht aus Materialien, die er um den Ort auf dem Darß gefunden hat.

Bei seinen Spaziergängen suchen seine Augen automatisch die Gegend nach neuen Teilen ab. Hacke oder Schaufel? Braucht er nicht. Erspäht er einen Schatz, beugt er sich hinunter, begutachtet ihn und gräbt ihn mit den Händen aus. So macht er es seit Kindertagen. Schon in der Grundschule faszinierte ihn die Archäologie und das Sammeln. „Heimatkunde“ hieß das Fach, das in der damaligen DDR auf dem Stundenplan stand und sein Interesse weckte.

Freitag erzählt, dass den Schülern ein besonderes Interesse für die Umwelt und die Dinge unter dem Boden beigebracht worden sei. Bei ihm hat es die Jahre überdauert. Was auf dem Boden liegt, gehört vergangenen Zeiten an. Er ordnet sie ein, stellt einen Kontext her. Er fügt die Teile nicht nur auf künstlerischer, sondern auch auf intellektueller Ebene zusammen.

Seit 2001 widmet sich Freitag der Archäologie

Trotz dieser frühen Passion entschied er sich gegen ein Archäologiestudium. In der Bundesrepublik wurde er erst Import-Export-Kaufmann für Baumwolle, dann Rechtsanwalt und Notar. 2001 ging er früh in Rente. Seitdem widmet er seine Zeit wieder der Archäologie: Er besuchte an der Volkshochschule den Kurs „Archäologie im Kreis Pinneberg“ und half zuletzt 2019 bei einer Ausgrabung in Tangstedt mit.

Noch einmal wird er wohl nicht bei einer Ausgrabung mitmachen. Doch privat möchte er weitersammeln – wenn auch weniger als in den Vorjahren. Doch eine unversehrte „Penny Doll“, die würde er dann noch gerne finden. „Ich bin eben ein Sammler und Zusammenfüger“.

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