Virtuelle Welt als Ersatzwelt: Die Zahl der Computer-Süchtigen im Kreis Pinneberg hat sich in den vergangenen drei Jahren verdoppelt.

Pinneberg. Für Karen beginnt der Tag morgens pünktlich um 8 Uhr. Noch vor dem Frühstück gießt die 26 Jahre alte Frau die Blumen. Mittags jätet sie Unkraut, am Nachmittag muss sie unbedingt die Hecke trimmen. Der Abend ist für die Ernte reserviert. Karen, die in Wirklichkeit einen anderen Namen trägt, hat lange, blonde Haare und eine randlose Brille. Sie ist weder Gärtnerin noch ist sie häufig an der frischen Luft. Karen ist computerspielsüchtig. Die Pflanzen, die sie pflegt, existieren nicht in Wirklichkeit, sondern nur in der virtuellen Welt eines Computerspiels. "Das Spiel strukturiert meinen Tag", sagt Karen, die zurzeit arbeitslos ist. Sie schafft es einfach nicht, sich vom Computer loszureißen.

So wie Karen geht es immer mehr Menschen in Deutschland. 2,5 Millionen Frauen und Männer nutzen das Internet auf problematische Weise. 560 000 von ihnen sind internetabhängig. Besonders viele Abhängige sind jung: 250 000 Menschen zwischen 14 und 24 Jahren sind internetsüchtig, 1,4 Millionen sind von einer Sucht bedroht. Zu diesem Ergebnis kommt die erste bundesweit repräsentative Studie zur Internetabhängigkeit, die von der Drogenbeauftragten der Bundesrepublik, Mechthild Dyckmans, in Auftrag gegeben wurde.

Auch im Kreis Pinneberg steigt die Zahl der Betroffenen. Die Suchtberatung der Diakonie in Pinneberg und die Ambulante und Teilstationäre Suchthilfe (ATS) des Landesvereins der Inneren Mission Schleswig-Holsteins in Quickborn haben spezielle Sprechstunden zu dem Thema eingerichtet. "Die Zahl derjenigen, die zu uns in die Beratung kommen, hat sich in den vergangenen Jahren auf 20 verdoppelt", sagt Stefan Albrecht, Suchtberater in Pinneberg. Als das Angebot 2009 startete, kamen vor allem besorgte Eltern mit ihren Kindern. Nun zählen immer mehr Erwachsene zu den Betroffenen.

Noch ist das Phänomen Computerspielsucht in Deutschland relativ unbekannt. Experten sind sich noch nicht einig, ob die Abhängigkeit von Computerspielen, Online-Foren, sozialen Netzwerken und Spielkonsolen als Krankheit anerkannt werden soll. Geschlechtsspezifische Unterschiede beobachten die Experten aber schon jetzt. "Von den Männern, die zu uns kommen, hat die Mehrheit eher Probleme mit Online-Rollenspielen", sagt Stefan Albrecht. Frauen, die sich bei ihm meldeten, nutzen eher Chatforen und soziale Netzwerke exzessiv.

Karen hat schon immer gern gespielt, mit Gameboys und Spielkonsolen. Als Ende der 90er-Jahre das Videospiel Pokémon auf den Markt kam, war Karen fasziniert. Sie war 15 Jahre alt, ging zur Realschule und verbrachte jede freie Minute auf Flohmärkten, um immer neue Karten zu kaufen. Freunde hatte sie kaum, über ihre Familie möchte sie nicht sprechen. "Die Karten haben in mir eine Lücke gefüllt", sagt Karen. Zu Spitzenzeiten besaß Karen mehr als 300 000 Sammelkarten. "Ich habe sie immer wieder geordnet und sortiert, oft die ganze Nacht", sagt Karen. 29 Tadel wegen Unpünktlichkeit stehen im Abschlusszeugnis. "Zu der Zeit habe ich es nicht geschafft, jeden Tag zu duschen", sagt Karen leise.

Dass sie die Kontrolle verliert, merkte die junge Frau, die im Kreis Pinneberg lebt, daran, dass sie immer höhere Beträge in die Sucht investierte. Binnen weniger Tage gab sie einmal 3000 Euro für bunte Pappkärtchen aus. "Davon hätte ich mir auch eine Wohnausstattung kaufen können", sagt Karen. Trotz der erfolgreich abgeschlossenen Ausbildung zur chemisch-technischen Assistenten glückte der Start ins Berufsleben nicht. Die meisten Tage verbrachte Karen am Computer. "Ganz klar, eine Suchtverlagerung."

Die Fachbegriffe kennt Karen, die seit Jahren in therapeutischer Behandlung ist, inzwischen genau. Doch Wirklichkeit und Spiel zu trennen, fällt ihr schwer. Wenn sie kurz vor Ladenschluss noch in den Supermarkt stürmt, um sich für den Rest der Nacht mit Cola einzudecken, kommt es vor, dass alles, woran sie denken kann, der Klee ist, den sie noch ernten muss.

Für Stefan Albrecht ist der Rückzug aus dem realen Leben ein Warnsignal. "Wird die virtuelle Welt zur Ersatzwelt, wird es gefährlich. Häufig verraten die Spiele auch etwas über den Menschen und seine Nöte." Wer Probleme im Alltag habe, zum Beispiel den Anforderungen in Schule oder Beruf gerecht zu werden, sei empfänglicher als andere dafür, Defizite am Computer zu kompensieren. "In der virtuellen Welt ist es leichter, Anerkennung zu bekommen und sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen", sagt Maike Kleber, Leiterin der Pinneberger Suchtberatung.

Auch körperlich kann sich die Abhängigkeit auswirken. Für Betroffene und Angehörige hat Stefan Albrecht eine gute Nachricht. Die Rückfallquote ist sehr gering, der größte Teil bekommt das Problem in den Griff. Karens letzte Hoffnung ist eine stationäre Therapie. Vier Monate lang will sie in einer Fachklinik lernen, ihren Tag selbst zu strukturieren - ohne virtuelle Blumen. Vielleicht hat sie dann wieder ein Auge dafür, was direkt vor ihrer Tür blüht.