Der Hubertustag eröffnet die Hauptjagdsaison. Das Abendblatt folgte dem Vorsitzenden der Kreisjägerschaft ins Revier

Wer jagen will, braucht Geduld. Viel Geduld. Und Thermounterwäsche. In Ermangelung derer kriecht mir die bitterkalte Luft des frühen Morgens in den Körper. Jetzt bloß keinen Krampf kriegen, denke ich. Und versuche, Füße und Beine in sitzender Position minimal zu bewegen. Das verflixte Frieren stellt meine Geduld doppelt auf die Probe.

Um 6 Uhr sind wir von dem abgelegenen Parkplatz am Schießstand in Heede ins Waldgebiet der Heeder Tannen im Nordosten des Kreises Pinneberg gestiefelt. Eingetaucht in das stille Dunkel des Waldes, hatte ich zunächst das Gefühl, mich im Blindflug zu bewegen. Vor mich hin stolpernd versuchte ich, die Silhouette von Hans-Albrecht Hewicker vor mir nicht aus dem Blick zu verlieren. Der Vorsitzende der Kreisjägerschaft, zünftig mit Jägerhut angetan und im langen, grünen Mantel, marschierte derart sicher und zügig durch sein Revier, als habe er ein Nachtsichtgerät vor den Augen. Möglichst geräuschlos müssten wir zum Hochsitz gelangen, auf dem wir uns auf die Lauer legen wollen, hatte mir der erfahrene Waidmann vorher erklärt. Sabbeln ist verboten, heißt das im Klartext..

Der Trick funktioniert so: Der Jäger bringt sich in Stellung, bevor die Wildtiere in der Morgendämmerung von den Feldern und Wiesen, auf denen sie nachts gefressen haben, in den Wald zurückkehren. Dort verbergen sie sich tagsüber im Unterholz.

Dann heißt es geduldig und bewegungslos auf dem Ansitz zu verharren. Auch fremder Geruch kann das Wild irritieren. Steigt vielleicht gerade mein Hugo-Boss-Duft einem Wildschwein in den Rüssel? Wenn ich bloß nur nicht so frieren würde. Die Leiter des Hochsitzes habe ich mit den Füßen ertastet und mich dann, ohne wirklich etwas zu erkennen, neben den Jäger auf die Sitzbank des kleinen Häuschens in rund drei Metern Höhe gezwängt.

Ich blicke durch die glaslose Fensteröffnung und sehe - nichts. Alles grau in schwarz. Ich schließe die Augen, versuche meine anderen, durch die wenig wilde Zivilisation verkümmerten Sinne zu nutzen. Außerhalb des Waldes bellt fortwährend ein Hofhund. Ganz in der Ferne fährt ein Auto. Läuft da irgendwo auf einem Bauernhof ein Generator? Ich kann es nicht richtig hören, unter uns könnte just eine Herde Büffel ungehört vorbeirennen - blöder Hund.

Dann, endlich, wieder Stille. Die Zeit verstreicht. Ich traue mich nicht, den Arm zu heben, um auf die Uhr zu gucken. Fasziniert bemerke ich, wie sich mit dem ersten Licht Konturen aus dem Grau und Schwarz herausschälen. Nach und nach erkenne ich einzelne Bäume, sehe, dass wir uns am Schnittpunkt dreier Waldwege befinden.

Der ehrenamtliche Chef der Jägerschaft im Kreis, der bis 2008 das Forstamt Rantzau geleitet hatte, tippt mich an, deutet durch die Sichtöffnung an der Frontseite des Hochsitzes. Ich blicke durch mein Fernglas, das ich ganz vorsichtig anhebe. Etwas bewegt sich auf dem mittleren Weg. Ein Reh, vielleicht rund 200 Meter entfernt. Viel zu weit. Hewickers Gewehr bleibt, wo es ist, angelehnt zwischen seinen Knien. "Einfach so losballern, das tun wir natürlich nicht", sagt der 69-Jährige, der schon als kleiner Steppke seinen Vater auf der Jagd in Aumühle begleitet hatte, später. Der Jäger, so lerne ich, muss das Wild zuerst ansprechen, also nach Art, Geschlecht, Alter und Zustand klassifizieren. Dafür hat er meist nur ganz kurz Zeit. "Es kann doch sein, dass hinter der Ricke ein Kitz kommt. Dem schieße ich nicht die Mutter weg", so Hewicker.

Meine Kinder kommen mir in den Sinn. Dass ich einen echten Jäger auf der Pirsch begleiten sollte, hatte sie fasziniert. Dann ging ihnen auf, was Resultat dieses dienstlichen (Jagd-) Ausflugs sein könnte. "Wehe, ihr schießt wirklich ein Reh", hatten sie mich beim Gute-Nacht-Sagen gewarnt. Zwei Herzen schlagen nun in meiner Brust. Eine gewisse Anspannung - ist das Jagdfieber? - macht sich in mir breit, als ich hinausspähe in den erwachenden Wald.

Es muss so gegen 7.30, 7.45 Uhr sein. Dort raschelt es im Laub, ein Eichhörnchen hoppelt vorbei. Eine Amsel sucht geräuschvoll unter Blättern nach Nahrung. Direkt über unseren Köpfen krabbelt und kratzt etwas. Ein kleiner Vogel, ein Zaunkönig, springt scheinbar völlig ohne Scheu auf das Fensterbrett nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Fehlt noch, dass der Piepmatz auf den Gewehrlauf hüpft.

Obwohl ich nur Zaungast bei Herrn Zaunkönig und anderen Waldbewohnern bin, empfinde ich dieses Naturerlebnis als faszinierend. "Für mich ist die Jagd eine Möglichkeit des Wiedereinswerdens mit der Natur", sagt mein "Lehrprinz", wie die Mentoren in der Jägerausbildung heißen, über seinen Antrieb, frühmorgens, wenn andere in ihren warmen Betten liegen, hinaus ins Revier zu gehen. Viele Male, so Hewicker, komme er nicht zum Schuss, sehe nicht einmal jagdbares Wild.

Wir aber haben Glück. Wenige Minuten später sind deutlich Schritte im Wald zu hören. Ein weiteres Reh kreuzt seitlich in unserem Blick- und Schussfeld auf. "Ein Schmalreh", sagt Hewicker nach kurzem Blick ganz leise. Also ein zwei Jahre altes Reh, das noch keinen Nachwuchs hat. Das Tier scheint uns weder zu sehen noch zu hören oder zu riechen. Soll es jetzt passieren? Wird gleich ein todbringender Schuss die Geräusche des Waldes übertönen? Hewicker macht keine Anstalten, die Büchse zu heben. Das Reh habe nicht richtig gestanden, sagt er später. Soll der Schuss gelingen, muss das Wild breit stehen, mit dem Körper quer zur Blickrichtung des Jägers. Dann kann der Schütze einen Blattschuss setzen. "Ziel ist, dass das Wild nach dem Schuss liegt, also sofort tot zusammenbricht", sagt Hewicker. Gelingt dies nicht, ist eine Nachsuche fällig. Dazu holt der Jäger gegebenenfalls Kollegen mit ausgebildeten Hunden hinzu. Geht es einem angeschossenen Wildschwein nach, ist das nicht ohne Risiko für Herr und Hund.

Schießausbildung ist ein zentraler Bestandteil der Jägerausbildung. Wer in der Prüfung beim Schießen versagt, ist auf jeden Fall durchgefallen. "Deshalb brauchen wir unsere Schießstände. Für die Ausbildung und um regelmäßig zu trainieren. Nicht aus sportlichen Gründen, sondern um das Tier möglichst ohne unnötiges Leiden zu töten", so der Vorsitzende der Jägerschaft. Einfach losballern ist nicht. Schon ein kleiner Zweig in der Flugbahn des Geschosses, vielleicht sogar nur ein Halm kann die Kugel entscheidend ablenken.

Wie viele Rehe oder Hirsche in einem Revier erlegt werden dürfen, darüber entscheidet die Kreisverwaltung als Untere Jagdbehörde. Beratungen zum amtlichen Abschussplan finden im Jagdbeirat des Kreises statt. In diesem Gremium sind Jäger, Naturschützer, Landwirte und Baumschuler vertreten. "Das einzelne Revier muss fortlaufend eine Streckenliste führen und vorlegen können", sagte Hewicker. Jedes Stück Wild, das geschossen oder auch auf der Straße überfahren worden ist, wird deshalb nach Kriterien wie Größe, Geschlecht und Alter aufgelistet.

Hinter den Bäumen ist jetzt die Sonne aufgegangen. Im Wald um uns herum werden die bunten Farben des Herbstes sichtbar, der die Hochzeit der Jagd ist. Einmal noch hat kurz ein Reh einen der Waldwege gekreuzt. Angeblich zu kurz für einen sicheren Schuss. Vielleicht möchte Hans-Albrecht Hewicker mir, dem Nicht-Jäger, bloß einen Schock ersparen. Vielleicht hat er auch mit meinen Kindern telefoniert...

Hat er, der seit Jahrzehnten jagt, moralische Bedenken, frage ich Hewicker im Nachhinein. Denkt er daran, einem Lebewesen den Tod zu bringen, wenn er den Finger am Abzug krümmt? "Nicht, wenn ich anlege. In diesem Augenblick geht es um die ordentliche Schussabgabe. Das ist immer noch etwas Aufregendes", antwortet Hewicker. Hinterher jedoch, wenn er an das erlegte Wild herantrete, gingen ihm schon Gedanken über Leben und Tod durch den Kopf. "Je älter ich werde, desto mehr." Eine Regulierung der Wildbestände in der vom Menschen gestalteten Kulturlandschaft sei notwendig.

Um 8.45 Uhr spricht Hewicker laut. "Jetzt kommt nichts mehr", sagt er. Endlich darf ich mich wieder bewegen, um bibbernd das Gefühl in Füße und Beine zurückzubekommen. Auf dem Rückweg zum Auto atme ich tief die kühle Luft ein. An diesem Morgen in den Heeder Tannen ist kein Tier durch des Jägers Hand gestorben. Bambi darf noch ein bisschen leben. Ganz ehrlich: Ich bin froh darüber.