Es ist noch immer ein Tabuthema: Viele Männer und Frauen können weder lesen noch schreiben. Die SPD will daher eine Bildungsoffensive starten.

Kreis Pinneberg. In Deutschland gibt es etwa 7,5 Millionen Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können - sogenannte funktionale Analphabeten. Vorsichtig gerechnet, sagt der SPD-Bildungsexperte Ernst Dieter Rossmann aus Elmshorn, "haben etwa 25 000 Menschen im Kreis Pinneberg Probleme mit Texten, die mehr als ein paar Worte umfassen". Ein Tabuthema, das die Sozialdemokraten jetzt mit einer "nationalen Alphabetisierungsdekade" aus der Versenkung holen wollen: In den nächsten zehn Jahren soll mit Aufklärung und entsprechenden Bildungsangeboten mindestens eine Halbierung der "wachsenden Zahl" der funktionalen Analphabeten erreicht werden.

Einer, der sein Schicksal bereits selbst in die Hand genommen hat, ist Herbert S. aus Rellingen. Der 55-Jährige besucht zwei Mal die Woche einen Alphabetisierungskursus der Volkshochschule Pinneberg, und das schon seit mehreren Jahren. Er erinnert sich gut an die Probleme in seiner Kindheit. 1962 kam er in Rellingen zur Grundschule. "Buchstaben haben wir nicht gelernt, sagt er, "es ging gleich mit Lesen los." Das war nichts für den jungen Herbert. "Irgendwie ging das nicht in meinen Kopf rein." Zu Hause war kaum Hilfe zu erwarten, die Mutter musste sich um neun Kinder kümmern. Und Förderstunden gab es auch nicht an der Schule. Er wurde in die letzte Reihe geschickt - und gemobbt. "Wenn ich mich mal bemüht habe, haben die anderen gelacht." Herbert S. blieb sitzen, mit 15 verließ er die Schule ohne Abschluss. Er hatte Glück, fand in einem Holz verarbeitenden Betrieb im Kreis Pinneberg Arbeit. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet er an der Hobelmaschine, entwickelte Tricks, um durchzukommen. Ein bisschen lesen konnte er. Wenn der Meister Arbeitsabläufe besprach, hörte er genau zu. Und wenn wirklich mal was aufzuschreiben war - dann hatte Herbert S. eben die Brille vergessen. "Ich hab' mich so durchgemogelt." Nur sein Chef, der weiß inzwischen Bescheid.

Stolz ist der Rellinger, dass er trotz seiner Schwäche den Führerschein bestanden hat. Er paukte mit einem Freund alle Fragen und Antworten und beantragte die mündliche Fahrprüfung - und bestand auf Anhieb.

+++ Der tägliche Kampf mit den Buchstaben +++

Dozentin Inga Bruns freut sich über jeden Fortschritt, den Herbert S. und die anderen Kursusteilnehmer machen. Sie hat beobachtet, dass zu ihren Kunden in den letzten Jahren mehr und mehr Männer zählen - und zunehmend Menschen, die einen Job haben. Denn die Herausforderungen werden aufgrund des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels immer größer. Einfache Tätigkeiten verschwinden zunehmend aus den Berufsbildern, die Anforderungen werden immer größer. "Deshalb arbeiten wir auch verstärkt mit dem PC", sagt Inga Bruns. Auch in diversen größeren Firmen im Kreis Pinneberg vom Autozulieferer bis zum Logistikunternehmen seien immer mehr einfache Tätigkeiten weggefallen, sagt die stellvertretende VHS-Leiterin Silke Reher-Rose. Die Umwelt werde immer komplexer und überfordere die Menschen, die teils Jahrzehnte im Betrieb waren "und nun einfach nicht mehr klarkommen". Sie sind es, die dann in immer größerer Zahl als funktionale Analphabeten entweder auffallen oder in die Kurse kommen, um doch noch die Kurve zu kriegen. Wer während des Kurses allerdings seinen Job verliert, sagt Inga Bruns, "der kommt ganz selten zu uns zurück".

+++ Große Buchstaben haben große Wirkung +++

Bildungsexperte Rossmann fordert, dass der wachsende Analphabetismus "auf allen Ebenen, in Betrieben und Vereinen" zum Thema wird. Entscheidend sei aber, dass den Betroffenen dann auch Beratungs- und Bildungsangebote zur Verfügung stehen. Dazu müsse zunächst ein nachhaltiges Netzwerk geschaffen werden, das die Akteure der Grundbildungsarbeit im allgemeinen Weiterbildungssystem umfasse. Hinzu komme die schrittweise Erhöhung der Kursplätze für Alphabetisierung und Grundbildung an den Volkshochschulen und weiteren Trägern auf bundesweit mindestens 100 000 jährlich, sagt Ernst Dieter Rossmann.

Warum Herbert S. immer noch die Schulbank bei der VHS drückt, hat private Gründe. Er möchte Zeitung, speziell die Fernsehzeitung lesen können. Und wenn er essen geht, auch gerne die Speisekarte. "Lesen, was da steht", sagt er. "Ich sehe nur, dass da etwas steht. Perfekt werde ich wohl nicht mehr", sagt er mit einem Schmunzeln. Aber das verlangt ja auch keiner.