Sie nennen sich Schreib-Betroffene. Zwei Analphabetinnen gewähren einen nicht alltäglichen Einblick in ihr Leben und ihre Schwierigkeiten.

Harburg. Wir treffen uns in "Tokio". So heißt der Raum in der Volkshochschule Harburg, die Unterrichtsräume hier sind nach Großstädten in aller Welt benannt. Sabine hat den Treffpunkt gewählt. Ein Treffen bei ihr zu Hause lehnte sie ab. Die 50-Jährige aus Harburg ist schon ein paar Minuten vor der verabredeten Zeit da. Wir warten noch auf Eva, 54, aus Neuwiedenthal. Ihre Nachnamen wollen die beiden Frauen nicht nennen. Sie wollen ihre Geschichten erzählen, aber sie wollen keine Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeit, auf Familie oder Freunde zulassen. Die Angst, sich zu blamieren, die Angst, als dumm abgestempelt zu werden, sitzt bei beiden tief. Erzählen werden sie, wie es ist, als Analphabet oder "Schreib-Betroffene" - wie sie sich selbst nennen - durchs Leben zu kommen. Sabine und Eva gehören zu deutschlandweit rund 7,5 Millionen Analphabeten. Die Dunkelziffer, so schätzen Fachleute, liege weitaus höher.

Ihr sei es sehr wichtig, zuerst mal ein Vorurteil aus der Welt zu räumen, sagt Sabine. "Analphabetismus heißt nicht automatisch, dass ein Mensch überhaupt nicht schreiben und lesen kann. Da gibt es verschiedene Stufen. Wir sind nicht dumm oder behindert, aber viele Menschen denken das und stempeln uns ab", sagt sie. Und dann erzählt sie von ihrer Schulkarriere, die beispielhaft ist für viele funktionale Analphabeten. Menschen, deren Schreib- und Lesefähigkeiten nicht der Norm unserer Gesellschaft entsprechen. "Ich wurde in die Grundschule eingeschult. Beim Schreiben und Lesen kam ich nicht mit, nach einem halben Jahr wurde ich in die Sonderschule gesteckt."

Eigentlich sei sie Linkshänderin gewesen, die Lehrer hätten sie "umerzogen, schon deswegen war ich natürlich langsamer als die anderen". Ungeduldige, brüllende und prügelnde Lehrer schüchtern das kleine Mädchen nachhaltig ein. Sie zieht sich immer mehr in sich zurück, hat keine Freunde, geht nicht raus zum Spielen. Dann, nach einem halben Jahr die Einschulung in die "Aufbewahrungsanstalt", so nennt Sabine die Sonderschule von damals. "Ich wollte lernen, ich wollte lesen und schreiben können. Aber die Hilfe, die ich wollte, habe ich dort nicht bekommen. Bei mir hat wirklich das Schulsystem versagt", sagt sie und sieht Eva an. Eva nickt, prügelnde Lehrer kennt sie auch. Schon in der Vorschule heißt es bei ihr, sie schaffe den Stoff nicht. Nach zwei Jahren Grundschule der Wechsel zur Sonderschule. Eva hat keinen Rückhalt und keine Hilfe zu Hause, ihr Vater, erinnert sich die 54-Jährige, habe nur seinen Namen schreiben können.

Nach drei Jahren Sonderschule, Eva kann kaum schreiben und nur bedingt lesen, muss sie auch diese Schule verlassen. Bis zur sechsten Klasse besucht das Mädchen eine andere Sonderschule für Kinder mit starken Schreib- und Leseschwächen. Dann ist ihre Schulkarriere beendet. Eva wird in eine Behinderten-Werkstatt gesteckt. "Ich habe mich sehr geschämt, ich hatte Angst vor anderen Menschen und war sehr schüchtern." Beide Mädchen erkennen früh, dass Schule kein Ort ist, an den man gerne geht, wo man Freunde findet und Lehrern vertrauen kann. Die Hänseleien der anderen Kinder sind unerträglich. Beide lernen schnell, was alle Analphabeten lernen - eine möglichst perfekte Tarnung aufzubauen.

Sabine schafft nach der Sonderschule doch noch den Sprung auf die Hauptschule. Dieses Mal hat sie Glück. Dort gehen die Lehrer auf ihr Problem ein, bemühen sich um sie und dort kann sie, trotz ihrer Schwäche, den Abschluss machen. Darauf sei sie sehr stolz. Mit dem Zeugnis kann sie sich für eine Lehrstelle als Floristin bewerben und bekommt die Stelle. Nach einem schweren Unfall kann sie den Beruf heute nicht mehr ausüben, und inzwischen ist sie arbeitslos.

"Natürlich fällt es auf, wenn du nicht schreiben kannst, wenn alles, was du schreibst, voller Fehler ist", berichtet Eva. "Du kapselst dich ab. Schlimm ist es, wenn wir Formulare bei Ärzten oder bei Ämtern ausfüllen müssen. Da bekommt man Panik. Bekommt man die Formulare nicht mit nach Hause, wo man sich Hilfe beim Ausfüllen holen kann, müssen andere Ausreden herhalten, warum man die Formulare gerade jetzt nicht ausfüllen kann." Die Palette der Ausreden sei groß. Die vergessene Brille gehört zu den Standards. Sabine: "Ich kenne jemanden, der hat sich sogar mal die Finger der rechten Hand absichtlich gebrochen, um nicht schreiben zu müssen."

Auch Eva kennt alle Tricks. Im Gegensatz zu Sabine, die ganz gut lesen kann, fällt ihr auch das sehr schwer. "Ich habe schon Magenschmerzen, wenn ich zur Arge gehe und Angst haben muss, irgendein Formular ausfüllen zu müssen. Aber ich habe eine tolle Sachbearbeiterin, der habe ich von meiner Lese- und Schreibschwäche erzählt. Ich war ganz überrascht, als sie mir sagte, dass das gar nicht schlimm ist." Viele Analphabeten, so Sabine, haben Angst, überhaupt aus ihren Wohnungen zu gehen. Die Fahrt von Harburg in die Hamburger Innenstadt bedeutet schon eine echte Herausforderung. Angst vor dem Versagen treibe die Menschen in die Isolation. Eva beschreibt einen Teufelskreis: "Ich musste ja zum Amt, sonst hätte ich kein Geld zum Leben bekommen. Als mich meine Sachbearbeiterin zu einem Bewerbungstraining schickte, dachte ich, ich sterbe vor Angst. Was soll ich da, wenn ich nicht mal lesen und schreiben kann." Und dann habe sie all ihren Mut aufgebracht, habe sich vor die ganze Gruppe gestellt und erzählt, sie sei Analphabetin.

"Ich habe natürlich gedacht, die lachen mich aus", sagt Eva. Aber niemand lachte, alle sagten mir, dass das doch nicht so schlimm ist, und ich war glücklich." Seitdem erzähle sie den Menschen von ihrem Problem. Sabine hingegen sucht sich bis heute sehr genau aus, wem sie von ihrer Schwäche berichtet. Vor sechs Jahren kam sie zur Volkshochschule. "Ich hatte damals einen Ein-Euro-Job. Als mein Chef mich ins Büro setzte, habe ich mir ein Herz gefasst und ihm von meinem Problem erzählt. Natürlich dachte ich, er schmeißt mich gleich raus. Er hat mir einen Volkshochschulkursus im Internet rausgesucht. So kam ich zum Alpha-Team", sagt sie.

Das Alpha-Team ist ein Zusammenschluss von Schreib-Betroffenen und Dozenten, die es sich zum Ziel gesetzt haben, das Problem Analphabetismus in die Öffentlichkeit zu bringen. Viele Analphabeten ziehen sich völlig aus dem öffentlichen Leben zurück. Dass die beiden Frauen bereit sind, ihre Geschichte überhaupt zu erzählen, ist ein Verdienst des Teams der Hamburger Volkshochschule. Sabine und Eva gehören dazu. "Wir machen verschiedene Kurse, reisen zu Tagungen, treffen Betroffene aus anderen Ländern", erklärt Sabine. "Wir lernen, andere Betroffene dazu zu ermuntern, Kurse zu besuchen." Aber vor allem lernen die Gruppenmitglieder, dass ihre Schwäche keine Behinderung ist, gegen die man nichts unternehmen kann. Eva gehört seit drei Jahren zum Alpha-Team. "Zur letzten Tagung bin ich sogar ganz allein im Zug bis nach Weinheim gefahren. Und es hat funktioniert", sagt sie und lächelt. Und Sabine möchte noch einen Appell loswerden: "Es ist wichtig, dass sich die Betroffenen trauen, sich bei uns zu melden. So haben sie die Chance, aus ihrer Isolation zu kommen."