Kiel/Henstedt-Ulzburg. Drei Jahre nach aufsehenerregender Attacke nach AfD-Treffen in Henstedt-Ulzburg wird ein 23-Jähriger wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt.

  • Angeklagter war in Henstedt-Ulzburg mit einem Pick-Up in eine Menschenmenge gefahren
  • Nebenklage vermisst Einordnung als politisch motivierte Tat
  • Drei Jahre Haft für Täter: Verteidigung kündigt Revision an

Die Tat war genauso aufsehenerregend wie der Prozess, und auch das Urteil gegen einen 23-Jährigen Mann aus dem Kreis Segeberg sorgt nun für Diskussionen. Wegen gefährlicher Körperverletzung in vier Fällen (und wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr) hat die Jugendkammer des Landgerichts Kiel eine dreijährige Haftstrafe verhängt. Der Angeklagte war im Oktober 2020 auf dem Gehweg an der Beckersbergstraße in Henstedt-Ulzburg in mehrere Gegendemonstranten gefahren, die zuvor an einer Protestkundgebung gegen eine AfD-Veranstaltung im Bürgerhaus teilgenommen hatten. Die Opfer wurden zum Teil schwer verletzt.

Im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft und zur Nebenklage sah das Landgericht nach 20 Verhandlungstagen jedoch keinen Tötungsvorsatz. Den Opfern muss der nicht vorbestrafte Angeklagte, der in der Nähe von Bad Bramstedt lebt, bis zu 2000 Euro Schmerzensgeld zahlen – insgesamt 5500 Euro.

Henstedt-Ulzburg: Angriff mit Auto nach AfD-Treffen – Täter muss ins Gefängnis

Darüber hinaus muss das damalige AfD-Mitglied für sämtliche materiellen Schäden aufkommen, die den Opfern auch in Zukunft aufgrund des Vorfalls entstehen. Über die Höhe weiterer Zahlungen müsse ein Zivilgericht entscheiden, sagte die Vorsitzende der Jugendkammer, Maja Brommann, in der Urteilsbegründung.

Das Solidaritätsbündnis „Tatort Henstedt-Ulzburg“ hatte die Verhandlung mit regelmäßigen Kundgebungen vor dem Gerichtsgebäude begleitet, auch die Opfer sprachen hier an einigen Tagen. Sonja Petersen, eine der Sprecherinnen, sagte nach dem Urteil, es sei „deutlich geworden“, dass der Angeklagte „eine extrem rechte Weltsicht vertrat, was nicht zuletzt an zahlreichen NS-verherrlichende Inhalten auf seinem Telefon und der Mitgliedschaft in der AfD dokumentiert ist. Wir finden es falsch, dass das Gericht die politische Tatmotivation nicht anerkennt. Mit dem Verweis, eine politische Bewertung müsse die Gesellschaft leisten und nicht das Urteil, nimmt sich das Gericht aus der Verantwortung“.

Henstedt-Ulzburg: AfD nutzt das örtliche Bürgerhaus regelmäßig

Für das Bündnis handelt es sich weiterhin um eine politisch motivierte Tat. Die Forderung bleibe unverändert: Die AfD dürfe das Bürgerhaus nicht weiter nutzen, der Treffpunkt müsse „ein für allemal Geschichte werden“. Hier war die Gemeinde in diesem Jahr allerdings bereits einmal mit dem Versuch gescheitert, einen Landesparteitag zu verhindern. Das Problem: Das Bürgerhaus ist ein öffentliches Gebäude. Die Benutzungssatzung zu ändern, könnte bedeuten, dass auch alle anderen Parteien verbannt würden, was wiederum die örtliche Politik nicht möchte. Vermutlich wird sich dieses Dilemma erst ändern lassen, wenn das Bürgerhaus langfristig modernisiert und dann verpachtet wird.

Eines der Opfer sagte zum Abschluss des Prozesses: „Ich habe gekämpft und ich habe überlebt. Der Prozess wird heute enden, aber ich werde weiter mit den Konsequenzen des Tötungsversuchs kämpfen müssen. Aber was nicht endet und niemals enden wird ist die Solidarität.“

Der Angeklagte, ein heute 23-Jähriger aus der Nähe von Bad Bramstedt (rechts sein Verteidiger Jens Hummel), war mit einem VW Pick-up in eine Gruppe Demonstranten gefahren und hatte diese teils schwer verletzt.
Der Angeklagte, ein heute 23-Jähriger aus der Nähe von Bad Bramstedt (rechts sein Verteidiger Jens Hummel), war mit einem VW Pick-up in eine Gruppe Demonstranten gefahren und hatte diese teils schwer verletzt. © dpa | Christian Charisius

Im VW Amarok seiner Mutter mit 20 km/h vier Personen angefahren

Wie berichtet, hatte der zum äußeren Ablauf geständige Mann vor drei Jahren in Henstedt-Ulzburg den tonnenschweren VW Amarok seiner Mutter auf den Bürgersteig und eine Grünfläche gelenkt. Laut Urteil fuhr er mit etwa 20 km/h vier Personen an und verletzte sie teilweise erheblich. Zuvor hatte im Bürgerhaus der Gemeinde eine Veranstaltung der AfD mit dem damaligen Vorsitzenden Jörg Meuthen stattgefunden, die begleitet worden war von einem lautstarken Gegenprotest.

Einen Tötungsvorsatz sah die Jugendkammer im Gegensatz zu Staatsanwalt Lorenz Frahm und den Anwälten der Nebenkläger jedoch nicht. „Der Angeklagte war sich der potenziellen Lebensgefahr bewusst und nahm Verletzungen in Kauf, ihren Tod wollte er jedoch nicht“, hieß es in der Urteilsbegründung. Seinen Führerschein musste der Pick-up-Fahrer abgeben. Vor Ablauf eines weiteren Jahres darf er keine neue Fahrerlaubnis beantragen.

Urteil: Jugendkammer sieht Autoattacke als Reaktion auf einen Angriff

Einer der drei Begleiter des Angeklagten, dessen rechtsradikale Gesinnung aus Handy-Chats und Aufklebern hervorging, bekam laut Urteil unmittelbar vor der Autoattacke von einem Unbekannten einen Schlag ins Gesicht. Das Gericht ging von einem tätlichen Angriff aus dem Lager der Anti-AfD-Demonstranten aus.

Einen solchen Angriff auf das rechtsradikale Quartett des Angeklagten hatte die Nebenklage im Prozess von Anfang an verneint. Sie sah darin eine bloße Schutzbehauptung zur Rechtfertigung eines politisch motivierten Angriffs eines Neonazis. Keines der eindringlich vernommenen Opfer will einen Angriff wahrgenommen haben. Das Gericht sah in dem Schlag jedoch den Auslöser für die Tat des Angeklagten: „Sein Gedanke war, seinem Begleiter zu helfen und den Gegner zum Ablassen zu bewegen.“ Der sonst nicht gewaltbereite Angeklagte habe „in einer ungewöhnlichen, für ihn unübersichtlichen Situation gehandelt“.

Henstedt-Ulzburg: Verteidigung fordert Freispruch und kündigt Revision an

Im Gegensatz zu Strafverteidiger Jens Hummel schloss die Jugendkammer aus, dass einer der Nebenkläger der Schläger war. Schon deshalb sei das Auto als Tatwaffe kein geeignetes Mittel gewesen, um weitere Angriffe zu unterbinden. Der Verteidiger hatte die „Kurzschlussreaktion“ seines Mandanten als Nothilfe gerechtfertigt und Freispruch gefordert.

Nach der Urteilsverkündung legte sich Rechtsanwalt Hummel als einziger auf eine Revision fest. Drei Jahre nach dem Vorfall möchte er zumindest eine bewährungsfähige Jugendstrafe erwirken. Der Angeklagte sei sozial eng in seine Familie eingebunden und habe einen festen Arbeitsplatz, eine Verbüßung sei nicht nötig.

Mehr zum Thema

„Schwere der Schuld“: Jugendkammer hält Verbüßung für unerlässlich

Wegen der Schwere der Schuld hält das Gericht dagegen „eine fühlbare Sanktion“ für unerlässlich. Trotz verbal vorgebrachter Reue kreise der charakterlich unreife, noch auf seine Eltern fixierte Angeklagte gedanklich vor allem um sich selbst. Er habe einen Nachholbedarf an Empathie und müsse sich noch intensiv mit der Tat auseinandersetzen, sagte die Vorsitzende.

Opferanwalt Björn Elberling vermisste im Urteil die Einordnung als vorsätzliche, politisch motivierte Tat. Er sieht weiterhin einen Tötungsvorsatz, ließ die Entscheidung über eine Revision jedoch offen. Staatsanwalt Frahm, der eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags gefordert hatte, schien zumindest mit dem Strafmaß zufrieden. Die Kammer war nur sechs Monate unter seinem Antrag geblieben.