Norderstedt/Kiel/Berlin. Extremisten nutzen den Nahost-Konflikt, um besonders junge Menschen zu erreichen – auch in Norderstedt. Was Experten raten.

Er dominiert derzeit die Nachrichten und bewegt die Gemüter: der Nahost-Konflikt, der sich seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober dramatisch verschärft hat. Die Folgen sind weltweit spürbar. So wird auch in Berlin und Hamburg demonstriert, und auch auf Norderstedter Schulhöfen bewegt das Thema Kinder und Jugendliche, die sich dann „Pro Israel“ oder „Pro Palästina“ aussprechen. Experten warnen nun davor, dass in diesem Klima Jugendliche leicht in die Fänge radikaler Organisationen gelangen können. Sie sagen, dass sich Schulen und Eltern besser für diese Herausforderung rüsten müssen.

Zwei, die sich in Norderstedt mit diesem Thema auskennen, sind der Sozialarbeiter Mashood Khan und Wolfgang Banse, Leiter der AG Jugend des Kriminalpräventiven Rates. „Unsere Sorge ist, dass Menschen, die den Islam falsch verstehen, die Situation ausnutzen und ihre Ideologie verbreiten“, sagt Mashood Khan. Banse, der Jahrzehnte als Polizist gearbeitet hat, sagt: „Jugendliche, die auf der Suche nach Anerkennung sind, nach Status, sind mitunter leichte Beute für solche Menschen.“

„Die Gefahr ist real und akut“, sagt ein Islamwissenschaftler

Ganz ähnlich klingt Kaan Mustafa Orhon, Islamwissenschaftler und Mitarbeiter der Beratungsstelle „Grüner Vogel“ mit Sitz in Bonn und Berlin, die zu Themen wie Deradikalisierung, Jihadismus und Salafismus berät. „Die Gefahr ist real und akut“, sagt Orhon. „Viele Jugendliche sind hoch emotionalisiert und leicht durch Angebote für vermeintliche Unterstützung der Palästinenser zu begeistern. Emotionen und mangelnde Sachkenntnis über die komplexe Natur des Konflikts machen sie anfällig für Schwarz-Weiß-Darstellungen und einseitige Betrachtung.“

Der Experte weiter: „Natürlich versuchen alle möglichen islamistischen Akteure, diese Lage auszunutzen und sich als Verteidiger der palästinensischen Bevölkerung zu inszenieren.“ Das treffe auf salafistische Gruppen zu, wie auch beispielsweise auf Hizb ut-Tahir, eine international tätige, islamistische Bewegung, die die Errichtung eines Kalifatstaats anstrebt. Orhon betont auch, dass sich derartige Akteure „nicht nur an muslimische Jugendliche“ richten.

Mashood Khan schildert, wie „Anwerbungsversuche“ aussehen

Laut Jana Reuter, Sprecherin des schleswig-holsteinischen Innenministeriums, werden in dem Bundesland aktuell rund 700 Personen der salafistischen Bewegung zugerechnet. In diesem Spektrum sei von einer „starken Emotionalisierung“ auszugehen angesichts des Nahost-Konflikts. Bei Jugendlichen mit familiären Wurzeln in der Nahost-Region könne der Konflikt wiederum „zu einem Identitätskonflikt“ führen. „Auf diese innere Zerrissenheit zielen Salafisten mit ihrer Propaganda ab, um Jugendliche für ihre Ideologie zu gewinnen.“

Wie solche „Anwerbungsversuche“ aussehen, kennt Mashood Khan aus eigener Erfahrung. Er ist 32 Jahre alt, wuchs in Norderstedt auf, seine Eltern flüchteten aus Pakistan nach Deutschland. „Als Jugendlicher wurde ich mal von Salafisten am Ochsenzoll angesprochen. Die kommen zu dir, fragen, wie es dir geht, was du so machst. Geben dir das Gefühl, dass du dazugehören könntest. Und dann wird gesagt: ‚Muslime werden überall auf der Welt getötet. Was tust du dagegen?“

Khan: „In meiner Glaubensgemeinde wurde ich vor solchen Leuten gewarnt“

Khan weiter: „Ich war zum Glück in meiner Glaubensgemeinde schon vor solchen Leuten gewarnt worden.“ Die Gemeinde bezeichnet er als „liberal, aber wertkonservativ“, ihm sei immer beigebracht worden, dass Islam „Liebe für alle, Hass für keinen“ bedeute. Aber nicht alle Jugendlichen seien gleichermaßen unempfänglich für extremistische Botschaften.

Seit Mashoods Jugend haben sich ein paar Dinge verändert, und zwar eher zum Negativen. Da ist der Nahost-Konflikt, da ist auch die immer größere Rolle, die das Internet schon im Leben von Kindern einnimmt. „Heutige Kinder ziehen sich immer öfter in eine eigene, virtuelle Welt zurück“, sagt Wolfgang Banse, der sich im Kriminalpräventiven Rat auch um das Thema Schulabsenz kümmert. „Diese Kinder lassen sich superschnell vereinnahmen, das ist leider eine Chance für Kriminelle.“

Sind Schulen ausreichend gerüstet? „Eher nicht“

Salafisten und andere radikale Gruppen haben diese Chance erkannt, nutzen Plattformen wie Instagram oder TikTok, wo dann etwa Videos einzelner Prediger oder auch kurze Filme mit Kriegsbildern gezeigt werden. Dazu Kaan Mustafa Orhon: „TikTok begünstigt, wie alle sozialen Medien, extreme Akteure, übersimplifizierende Botschaften und die Verbreitung von menschenverachtenden Inhalten. Gegenangebote, seien sie staatlich oder zivilgesellschaftlich, haben da erheblichen Aufholbedarf.“

Sind Schulen für diese Herausforderung gerüstet? „Das ist schwer verallgemeinernd zu sagen, aber ich habe das Gefühl, eher nicht“, sagt dazu Orhon. Medienkompetenz sei „definitiv ein ganz wesentlicher Punkt“, an dem nachgesteuert werden müsse. Auch Mashood Khan meint, dass an Schulen „viel mehr“ darüber aufgeklärt werden müsse, wie radikale Islamisten arbeiten und versuchen, Anhänger zu gewinnen – online wie offline.

Landesprojekt PROvention bietet Workshops für Kinder und Jugendliche

Immerhin gibt es bereits einige Landesinitiativen zu dem Thema, wie Jana Reuter betont. Da ist etwa das Projekt „PROvention“, getragen von der Türkischen Gemeinde Schleswig-Holstein e.V. Das Projekt bietet eine telefonische Beratungshotline, außerdem Workshops für Kinder und Jugendliche, zu Themen wie „Antimuslimischer Rassismus“, „Social Media und Fake News“ oder „Extremismus und Radikalisierung“. Die Workshops können auf Anfrage gebucht werden.

Wolfgang Banse glaubt indes, dass sich an Schulen mehr tun muss. So seien einfach „mehr Lehrkräfte“ nötig. Außerdem müsse bei den Schulanmeldungen darauf geachtet werden, dass es eine „bessere Verteilung bei der Integration“ gebe. Banse: „Es kann nicht sein, dass eine Schule 60 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund hat. Das ist nicht gelebte Integration.“

Antisemitisch oder pro-palästinensisch? Wie Lehrer reagieren sollten

Kommt es zu Streitigkeiten auf dem Schulhof, zu Diskussionen rund um den Nahost-Konflikt, wissen Lehrer oft nicht, was die angemessene Reaktion ist. Dazu sagt Kaan Mustafa Orhon: „Antisemitismus darf nie toleriert werden.“ Derartige Aussagen dürften „nicht unwidersprochen bleiben, ganz zu schweigen von Drohungen oder Übergriffen.“ Hier müssten Zuständige einschreiten.

Ganz anders verhalte es sich jedoch mit „Pro-palästinensischen Haltungen.“ Orhon: „Wenn Schülerinnen und Schüler für eine Sicht auf den Konflikt, die Autoritätspersonen missfällt, sanktioniert werden, ist das nicht nur eine Verletzung ihrer Grundrechte, die ebenfalls nicht akzeptiert werden darf, sondern befördert in der Tat auch massiv die Narrative islamistischer und anderer extremistischer Akteure und leistet so der Radikalisierung Vorschub.“ Es ist mithin also an den Lehrern, hier sehr genau zu unterscheiden und das auch verständlich zu erklären – keine leichte Aufgabe.

Gemeinsame Auftritte von Religionsvertretern an Schulen sind hilfreich

Immerhin glaubt Orhon durchaus, dass durch „konstruktive Beleuchtung der Ursachen des Konflikts viel erreicht“ werden könne. Und er sagt auch: „Gemeinsame Auftritte von Friedensaktivisten aus der Region oder Vertretern verschiedener ethnischer oder religiöser Gruppen in Schulen sind eine konkrete Maßnahme, die in der Regel gut angenommen wird und positive Reaktionen erhält.“

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So etwas ist ganz im Sinne von Mashood Khan, der ebenfalls viel von gemeinsamen Auftritten von Vertretern der Religionen hält. Ihm ist sehr wichtig zu betonen, dass der Islam eigentlich für „Liebe, Frieden und gemeinsames Miteinander“ steht. Und er sagt auch: „Jugendlichen sage ich immer wieder, dass sie sich für Politik hier in Deutschland, hier in der Region interessieren müssen. Ein Moslem hat auch die Pflicht, loyal gegenüber unserem Staat zu sein und das Grundgesetz zu respektieren.“