Mütter und Kinder aus Norderstedt erzählen, wie die Trunksucht der Eltern die Familie zerstörte. Die Erwachsenen sind gefangen zwischen Scham und Droge, die Kinder verkümmern seelisch in der Isolation

Die Mutter, 53, und ihre Tochter, 16, sitzen an einem Tisch in der Suchtberatung ATS an der Kohfuhrt in Norderstedt. Nebeneinander, aber auf Abstand. Die Tochter hat einen Stuhl zwischen sich und der Mutter frei gelassen. Manchmal schaut die Mutter lächelnd zur ihrer Tochter und wirkt hilflos. Die Tochter blickt steif geradeaus. Viel Vertrauen ist nicht zwischen den beiden. Woher auch.

Mutter und Tochter wollen heute mit wildfremden Leuten darüber sprechen, wie es ist, wenn der Alkohol eine Familie zerstört. Beide müssen allen Mut zusammennehmen. Nach Jahren des Schweigens haben sie die Scham besiegt: über sich, ihren Umgang miteinander und die vielen Lügen.

Der Mutter stockt ein ums andere Mal die Stimme, als sie einen unvollständigen Abriss ihres Lebens gibt. "Schon meine Eltern waren Trinker. Alkohol war immer Thema", sagt sie. Als Erwachsene lebt sie das Leben ihrer Eltern nach. Sie führt heute ihre dritte Ehe, bekommt mehrere Kinder. Die Väter allesamt Alkoholiker. Sie selbst greift zur Flasche. Irgendwann fällt ihre Tochter mal hin und tut sich sehr weh. "Und ich dachte: Was wäre wenn? Ich total besoffen, das Kind verletzt, und ich kann nicht helfen?" Sie lässt das Trinken sein. Ihr Mann nicht.

Was genau ihre jüngste Tochter in ihrer aktuellen Ehe alles erlebt, bleibt ungefähr. Was es mit ihr gemacht hat, ist für niemanden übersehbar. Die 16-Jährige ist stark übergewichtig. Der Kopf verschwindet zwischen den Schultern. Sie hat einen Sprachfehler, ist nur bei genauem Hinhören zu verstehen. Familienleben, das war für sie Flucht statt Zuflucht, Durchkommen statt Ankommen, Hölle statt Himmel. Sie igelte sich ein, fraß Probleme und Ängste in sich hinein. Mutter und Vater fielen als Gesprächspartner aus. Also sprach sie einfach nicht mehr. Die Isolation macht die 16-Jährige zum Sonderling in der Schule, zur Projektionsfläche für die Gehässigkeit ihrer Mitschüler. "Ich war sehr unglücklich", sagt sie leise. Als die Mutter auf dem Arbeitsamt ihr Leid klagt, erzählen die Beamten ihr vom Norderstedter Projekt "Kleine Riesen" von der ATS-Suchtberatungsstelle. "Es musste was passieren. Wenn ich sie nicht völlig verlieren wollte", sagt die Mutter.

Seit eineinhalb Jahren geht die Tochter jetzt in die Gruppe. Dass sie hier sitzt, über ihr Leben spricht, sich wahrscheinlich extra dafür die Haare mit Strähnchen hübsch gemacht und die Augen geschminkt hat, dass sie - zwar noch mit Sprachfehler - über den Prüfungsstress in der Schule und ihre Pläne, später "irgendwas im Einzelhandel" machen zu wollen, erzählt, ist der Beweis, dass sie tatsächlich zu einem "kleinen Riesen" geworden ist und trotz ihrer belastenden Vorgeschichte langsam Tritt fast in ihrem Leben. Um den Sprachfehler kümmert sich übrigens jetzt ein Logopäde. "Mein Mann hat mitbekommen, wie unglücklich unsere Tochter ist. Nun sieht er auch, wie sie sich verändert. Und tatsächlich trinkt er jetzt weniger und reißt sich mehr zusammen", sagt die Mutter. "Ich kann mit meinen Eltern auch mal reden - manchmal zumindest", sagt die 16-Jährige und lächelt über den frei gelassenen Stuhl zu ihrer Mutter hinüber. Das Vertrauen wächst.

Bei den "Kleinen Riesen" bekam die 16-Jährige zunächst ein offenes Ohr. In Einzelgesprächen mit den Sozialpädagogen der ATS konnte sie behutsam all das erzählen, was sie bedrückte, was sie jahrelang nicht loswerden konnte. "Es zeigt sich dabei immer wieder, wie befreiend und entlastend es für Kinder ist, wenn sie feststellen, dass sie mit der bislang meist unausgesprochenen Thematik der Sucht im Elternhaus, mit der häufig Wut, Schuld- und Schamgefühl verbunden sind, nicht alleine dastehen. Und wenn sie merken, dass andere ähnliche Erfahrungen gemacht haben", sagt Astrid Mehrer, die das Projekt für die ATS leitet. Nach den Einzelgesprächen kam die 16-Jährige in eine Gruppe von Gleichaltrigen, die ein ähnliches Schicksal teilen. An einem festen Tag in der Woche können die Jugendlichen gemeinsam spielen, sie können reden, sich zurückziehen, sie machen Ausflüge oder arbeiten an sich und ihrem Selbstverständnis mit Wahrnehmungs- und Entspannungsübungen oder in Kreativangeboten. Vor allem aber lernen sie, dass das Problem ihrer Eltern nicht ihr Problem ist. Dass die Eltern krank sind und nicht sie. Sie legen die Schuld ab, die sie sich fälschlicherweise aufgeladen haben. "Genau das ist es, was ich so toll finde an diesem Projekt", sagt eine Mutter, 40, die einen elfjährigen Sohn in einer Gruppe in Norderstedt betreuen lässt. "Ich habe zwei Söhne, neben dem Elfjährigen noch einen 16-Jährigen, sie haben beide unsere Alkoholprobleme und Gewalt in der Familie erlebt. Mein Mann ist Alkoholiker und ich bin Ko-Abhängig", sagt die Frau. Für ihre Söhne habe es kein normales Familienleben gegeben. Nach der Schule nach Hause, keine Mitschüler einladen, denn niemandem war es zuzumuten, was hinter der Haustür geschah. Ein Leben in Scham. "Immer nur ruhig sein, Mutti geht es nicht so gut, wir müssen uns um sie kümmern", sagt die Mutter. Der Elfjährige quittiert die traumatischen Erfahrungen mit dem Rückzug in seine Innenwelt. "Er sprach einfach nicht mehr, sondern grinste nur noch", sagt die Mutter. Heute lebt sie mit einem Alkoholiker, der seit sechs Jahren trocken ist. Sie selbst trinkt keinen Tropfen Alkohol mehr, hat sich zu einer "militanten Anti-Alkoholikerin" entwickelt. Für den Elfjährigen sei der wöchentliche Gruppentermin bei den "Kleinen Riesen" heilig. "Er geht jetzt ganz unverkrampft mit dem Thema um. Selbst in der Schule sagt er ganz offen: Ich gehe heute zu meinem Termin in der Suchtberatung!", sagt die Mutter. Was er dort erlebt, das erzählt er der Mutter oder dem Vater nicht. Das ist Teil des Konzeptes bei den "Kleinen Riesen". Was in den Räumen der ATS an der Kohfurth unter den Kindern und Jugendlichen besprochen wird, bleibt Tabu für die Eltern. Trotzdem werden Mutter und Vater nicht außen vor gelassen. "Den Eltern werden regelmäßig Gesprächskontakte und Elternabende angeboten, bei denen sie mit anderen Eltern in Kontakt treten können. Sie erhalten Unterstützung in Erziehungsfragen, und es wird ihnen Unterstützung für die Bekämpfung der eigenen Sucht vermittelt, sagt Projektleiterin Astrid Mehrer.

Wenn die Eltern über die Probleme ihrer Kinder begreifen, dass sie sich ändern und ihre Sucht bekämpfen müssen, dann haben die "Kleinen Riesen" ihr Ziel erreicht. Denn erst wenn Mama oder Papa sich zusammenreißen und von der Droge wegkommen, ist so etwas wie ein Familienleben möglich.

Die 40-jährige Mutter lebt in ständiger Angst, dass ihre Söhne den Weg in die Alkoholsucht finden. "Deswegen akzeptiere ich in unserem Haushalt keinen Alkohol. Auch nicht Silvester oder zu anderen Feiern", sagt sie. Letztes Silvester kam es aus ihrer Sicht zum "Super-GAU". Der 16-jährige Sohn sagte, er gehe zum ersten Mal auf eine Party. Gleich kamen in der Mutter die Bilder von koma-saufenden Jugendlichen hoch. Doch der 16-Jährige wollte davon nichts wissen: "Mama, ich werde auf der Party vielleicht ein oder zwei Bier trinken. Aber ich werde mich nicht betrinken. Ich habe kein Problem mit Alkohol. Du hast das Problem". Die Mutter hatte begriffen, dass sie ihren Kindern mehr zutrauen kann als sich selbst.