Das Norderstedter Jugendamt kontrolliert Familien, wenn deren Kinder nicht zur “U-Untersuchung“ kommen. Gefahren sollen so früher erkannt werden.

Norderstedt. Vernachlässigung, Verwahrlosung, Schläge oder sexueller Missbrauch - Gefahren, denen Kinder dort ausgesetzt sind, wo sie eigentlich nur Schutz, Geborgenheit und Liebe erfahren sollten: in der Familie. Immer wieder werden die drastischen Fälle unter den Kinder-Schicksalen aus dem Morast der gesellschaftlichen Untiefen an die Oberfläche gespült. Dann kennen Entsetzen und Entrüstung keine Grenzen in der Öffentlichkeit. Und alle schauen auf die Behörden: Hätten die es nicht besser wissen können? Hätten die nicht einschreiten müssen?

In Norderstedt sind die, die es besser wissen und einschreiten könnten, 13 Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes. Unter der Weisung von Klaus Struckmann, dem Leiter des Norderstedter Jugendamtes, werden sie immer dann aktiv, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass das "Kindswohl" in der Familie leidet. In den vergangenen zwölf Monaten hatten die 13 Beamten so viel zu tun, wie noch nie.

Es ist aber nicht so, dass die Norderstedter Eltern plötzlich kollektiv versagt und sich und ihren Umgang mit den Kindern nicht mehr im Griff haben. Seit April 2008 gilt das neue Kinderschutzgesetz in Schleswig-Holstein. Und das machte die Kindervorsorgeuntersuchungen - die sogenannten U-Untersuchungen - für alle Eltern verbindlich. Wer das "Gelbe Heft", in dem die Untersuchungen dokumentiert werden, für seine Kinder im Alter vom dritten Lebensmonat bis zu fünfeinhalb Jahren nicht penibel führt, dem drohen in letzter Konsequenz ein Besuch und die Sanktionen des Jugendamtes.

Anfangs landeten 50 Meldungen pro Monat beim Jugendamt

Die Situation nach Inkrafttreten des Gesetzes und der Einführung eines verbindlichen Einlade- und Meldewesens im April 2008 war unübersichtlich. Klaus Struckmann: "Im vergangenen Jahr hatten wir dann pro Monat mindestens 50 Meldungen über verpasste Untersuchungen. Das war für meine Mitarbeiter kaum zu bewältigen." Mittlerweile sei das Gesundheitsamt quasi wie ein Filter vorgeschaltet. Die Kollegen laden die Eltern schriftlich zu den Untersuchungen ein, sie erinnern mit einem zweiten Schreiben und einer Fristsetzung an den anstehenden Termin. Wenn es dann immer noch nicht zu einer Reaktion gekommen ist, geht der Fall an das Jugendamt. "Wir sind jetzt die letzte Instanz in der Kette", sagt Struckmann.

Im vergangenen halben Jahr kam es so noch zu insgesamt 63 Meldungen im Jugendamt. "Eltern, die ihre Kinder aus welchen Gründen auch immer noch nicht zu den anstehenden Untersuchungen gebracht hatten", sagt Struckmann. Die Mitarbeiter des Jugendamtes gehen dann direkt bei den Familien vorbei und klingeln. Wenn keiner öffnet, hinterlassen sie einen Zettel mit der Bitte um Rückmeldung im Briefkasten. "Unter den 63 untersuchten Fällen hat es keinen gegeben, der sich nicht geklärt hat. In keinem Fall mussten wir Hilfen einleiten", sagt Struckmann. In vielen Fällen hatte es schlicht der Kinderarzt unterlassen, die nötige Meldung über die absolvierte Untersuchung an die Behörden zu melden - so wie es vorgeschrieben ist. Manchmal haben die Familien die Adresse geändert, sie sind ins Ausland verzogen oder innerhalb des Landes. "Gleichwohl müssen wir diesen Leuten hinterher telefonieren", sagt Struckmann. Manchmal ist ein Elternteil mit den Kindern für mehrere Monate im Ausland, etwa ein Heimaturlaub bei der Familie.

Ertappte Eltern reagieren mit großem Verständnis

"Theoretisch müssten wir dann sogar ins Ausland reisen, um diese Eltern aufzusuchen", sagt Struckmann. Doch in der Praxis vertraue man auf das Wort des Familienmitglieds in Norderstedt, dass sich die Frau kümmern werde, sobald sie wieder in Deutschland ist. "Die Leute reagieren mit Verständnis auf unsere Anfrage. Viele finden es sogar richtig gut, dass wir hartnäckig nachhaken", sagt Struckmann. Es gab schon Fälle, da kam die Mutter mit dem Kind direkt auf dem Amt vorbei, um vorzuführen wie proper und gesund es sei. Es sind Reaktionen wie diese, die auch Struckmann in seiner Einschätzung bestärken, dass der immense Aufwand bei der Nachverfolgung der U-Untersuchungen sich in Norderstedt lohne. Aus vielen Städten und Kommunen bundesweit kommt hingegen schon der Ruf, die Überprüfungen wieder abzuschaffen. Sie erzeuge einen immensen und teuren Verwaltungsaufwand und führe auf der anderen Seite zu keinem messbaren Erfolg. Entdeckt würden nur die Fälle, die ohnehin schon unter starker Beobachtung stünden. Neue Problem-Familien würden kaum ermittelt, heißt es.

Aufwendige Kontrollen sind besser als schlimme Vorwürfe

"Wir investieren in der Tat viel Zeit für eigentlich nichts. Aber im Ergebnis ist das doch äußerst beruhigend", sagt Klaus Struckmann. Die Urangst eines Mitarbeiters im Jugendamt ist der Vorwurf, im Vorfeld einer Familientragödie nicht genügend getan zu haben. Die Kontrolle hingegen bietet einen zumindest groben Überblick der Situation, wenn auch keine Garantie, drastische Fälle der Kindswohlgefährdung auszuschließen. "Das Problem ist doch, wenn man nichts macht", sagt Struckmann.

Das Jugendamt hadert allerdings noch mit der rechtlichen Situation. Klaus Struckmann: "Eigentlich haben wir nichts in der Hand, wenn wir vor einer verschlossenen Tür stehen." Denn die Eltern seien gesetzlich nicht verpflichtet, dem Jugendamt die Kinder vorzuführen oder zum Arzt zu gehen. Die Aufgabe des Jugendamtes ist es dann, die Gefährdung des Kindes nachzuweisen. Wenn Eltern keine Atteste oder das "Gelbe Heft" vorzeigen, wenn sie niemanden in die Wohnung lassen, dann wird die Recherche schwierig. Manchmal ergeben sich aus den Beobachtungen der Nachbarn, der Lehrer und Mitschüler in der Schule, des Kinderarztes oder der Verwandten die nötigen Erkenntnisse. Erst dann könnte das Jugendamt in enger Abstimmung mit dem Familiengericht und der Polizei das Kind aus der Familie nehmen.