Die Menschenkette gegen Atomkraft hat 120 000 Demonstranten mobilisiert, darunter mit Karsten Hinrichsen auch ein Urgestein der Proteste.

Brunsbüttel. Nur im Winter können sie es sehen. Wenn der Himmel klar ist und die Bäume kahl. Dann ist es da, das Atomkraftwerk (AKW) Brunsbüttel. Dieser große schwarze Kasten, gut einen Kilometer entfernt. Das kleine Dorf Büttel liegt direkt auf dem Weg dorthin. Weniger als 50 Menschen wohnen hier noch, Hunderte wurden 1979 umgesiedelt, nachdem das AKW gebaut worden war. Jetzt ist Frühling in Büttel, die Bäume tragen ihre ersten Blätter. Das Atomkraftwerk ist eigentlich weit weg. Nur nicht heute, am Tag der großen Demonstration.

Vor dem Dorfkrug, der gewissermaßen das Zentrum ist, packt Karsten Hinrichsen ein kleines Megafon aus einem Pappkarton. Zehn Euro, made in China - ein Sonderangebot. Hinrichsen wiegt das Gerät prüfend in seiner Hand. Früher sahen die Dinger anders aus. Früher, als der kleine Mann mit den krausen Haaren noch gegen das AKW in Brokdorf kämpfte. 13 Jahre lang klagte er in allen Instanzen gegen die Betriebsgenehmigung - und verlor. 1986, ein halbes Jahr nach der Katastrophe von Tschernobyl, ging der Reaktor ans Netz.

Heute ist Hinrichsen wieder da. Nicht, dass er weg gewesen wäre in all den Jahren. Es ist nur ruhiger geworden um den Mann, den manche auch als einen verbissenen Don Quichote gesehen haben, der sich abrackert und nur wenig erreicht. Jetzt steht er wieder hier, 67 Jahre alt, mit einem braun gegerbten Gesicht und einer neongelben Weste über seinem Pullover.

Die Menschenkette soll von Brunsbüttel quer durch Hamburg bis nach Krümmel reichen - 120 Kilometer weit. Sie richtet sich gegen die Verlängerung der AKW-Laufzeiten, wie sie die Bundesregierung plant. Hinrichsen hat die Aktion zwar nicht mitorganisiert, aber trotzdem die Betreuung eines Streckenabschnitts übernommen. Atomkraft, das ist nach wie vor sein Thema. Er ist einer der wenigen, die von den großen Protesten in den 1980er-Jahren übrig sind. "So etwas wie heute hat vor allem auch eine Wirkung nach innen", sagt er, "dass man sich einmal nicht wie ein Einzelkämpfer fühlt." Es bewahrt davor, irgendwann zu resignieren.

Durch Büttel fahren hupende VW-Busse. Die Leute halten Flaggen aus dem Fenster - die rote Sonne auf gelbem Grund. Dieses Symbol hatte die Anti-Atomkraft-Bewegung schon vor 30 Jahren. Nur nach und nach kommen die Demonstranten. Eine halbe Stunde, bevor die Menschenkette stehen soll, sieht es leer aus. "Ich hätte gedacht, dass mehr los ist." Hinrichsen steigt auf sein Fahrrad, um die Lage zu sichten.

Oben auf dem Deich haben sie es sich bequem gemacht. In kleinen Gruppen sitzen die Menschen zusammen und halten ihre Gesichter in die Sonne. Schafe weiden auf der breiten Vorderdeichfläche, die sie von der Elbe trennt. Ein Tanker schiebt sich langsam in Richtung Nordsee. Strommasten ragen in den Himmel, ein paar Windräder - und das Atomkraftwerk. 1970 begann sein Bau. Nach diversen Störfällen liegt Brunsbüttel seit 2007 still. Der schwedische Energiekonzern Vattenfall ist mit Anteilen von zwei Dritteln größter Gesellschafter.

Karsten Hinrichsen war schon 1981 dabei, bei dem "Marsch der 100 000" gegen den Meiler in Brokdorf. Damals eskalierte die Situation zwischen Demonstranten und Polizei. Steine flogen, Menschen wurden verletzt. Heute wird es anders sein. "Das war eben eine andere Zeit", sagt Hinrichsen. "Alle hatten Arbeit, es gab die Friedensbewegung, und das politische Bewusstsein war viel stärker." Die Atomenergie sei damals ein Kristallisationspunkt gewesen für linke Kräfte und ihren Kampf gegen den Kapitalismus. Lange her, weit weg.

rocket Die Menschenkette formiert sich - und am Ende reicht es. Eine halbe Stunde stehen die Menschen nebeneinander. Viele haben Trillerpfeifen zwischen den Lippen. Über ihnen kreisen Hubschrauber. Am Nachmittag sickern dann die Zahlen durch. 120 000 haben mitgemacht. Gleichzeitig wurde beim hessischen AKW Biblis und im nordrhein-westfälischen Endlager Ahaus demonstriert. Die Organisatoren sprechen von der größten Anti-Atomkraft-Demo der Bundesrepublik. Ein Erfolg, der bei den Abschlusskundgebungen gefeiert wird. Hinrichsen soll auch etwas sagen, direkt hier am AKW. Und dann steht er da, guckt auf den schwarzen Kasten und redet sich ein bisschen in Rage. Gegen Angela Merkel, gegen Vattenfall, gegen Atomkraft. "Jetzt geht der Kampf erst richtig los", ruft er. Er ist jetzt einer von vielen, zumindest heute - oder haben wir es mit einem Comeback der großen Anti-Atom-Bewegung zu tun? Hinter der Bühne zuckt Hinrichsen mit den Schultern. "Schön wär's. Ich hoffe sehr, dass das Engagement nicht wieder einschläft."

Mit dem Rad fährt er zurück nach Büttel. Hier ist schon wieder Ruhe eingekehrt. Im Dorfkrug wird ein 40. Hochzeitstag gefeiert. Die Sonne scheint, die Bäume knospen. Das Atomkraftwerk ist ganz weit weg.