Mindestens ein Abgeordneter der Opposition votiert für den Chef der schwarz-gelben Koalition. Carstensen: “Ich war überrascht.“

Kiel. Gesche (5), Lasse (7) und Linus (10) recken auf der Tribüne des Kieler Landtags die Hälse und schauen gespannt hinunter zu Opa Peter Harry. Carstensen ist fast so aufgeregt wie seine Enkel, als der frisch gekürte Landtagspräsident Torsten Geerdts (CDU) das Ergebnis der geheimen Ministerpräsidentenwahl verkündet: "Ja-Stimmen 50."

Bei CDU und FDP bricht Jubel aus. Neben ihren 49 Abgeordneten hat auch ein Überläufer aus der Opposition (46 Sitze) für Carstensen votiert.

"Ich habe ein solches Ergebnis nicht erwartet, bin glücklich und zugleich tief bewegt", sagt der alte und neue Ministerpräsident in einer knappen Dankesrede. Carstensen verspricht, dass er weiter "Politik nahe bei den Menschen" machen werde, schlägt aber auch ungewohnte Töne an. "Ich werde dringend notwendige Reformen mit Augenmaß vorantreiben", versichert er. Gemeint ist insbesondere der Sparkurs. Bis 2020 will Schwarz-Gelb 5600 Landesjobs abbauen.

Carstensen versucht zudem, nach dem "heftigen Wahlkampf" eine Brücke auch zur Opposition im Landtag zu bauen. "Ich reiche allen die Hand." CDU und FDP applaudieren, mit ihnen verhalten einige Abgeordnete der SPD. Ihr Fraktions- und Parteichef Ralf Stegner rührt keine Hand. Auch Grüne, SSW und Linkspartei applaudieren nicht.

Wenige Minuten später vor der Tür des Plenarsaals gibt es zunächst nur ein Thema, die Ja-Stimme für den Ministerpräsidenten aus der Opposition. "Ich war überrascht", gesteht Carstensen und gleich mit, dass er vor der Wahl sehr aufgeregt gewesen sei. In der CDU wurde bis zuletzt befürchtet, dass der Ministerpräsident aus den eigenen Reihen nicht alle Stimmen erhalten könnte.

Die Oppositionsfraktionen, und zwar alle vier, bescheinigten sich prompt eine weiße Weste. "Die Wahrscheinlichkeit, dass einer aus der SPD ausgerechnet diesen Mann wählt, liegt bei null", sagte Stegner. Ähnlich forsch dementierten Grüne, SSW und Linkspartei. Grünen-Chef Robert Habeck spekulierte darüber, ob es vielleicht eine Verbindung zum "Heide-Mord" 2005 gebe. "Das springt ins Auge." Damals hatte ein bis heute unentdeckter Abweichler aus dem rot-grün-dänischen Lager Ministerpräsidentin Simonis die Stimme versagt und sie so gestürzt.

Die historische Bedeutung des Tages wurde am Nachmittag deutlich, als die schwarz-gelbe Ministerriege (sechs Männer und eine Frau) nach ihrer ersten Kabinettssitzung vereidigt wurde. Zum ersten Mal seit der Kieler Affären-Wahl 1988 wurde im Landtag kein roter Minister nach vorn gebeten. Wie schmerzhaft der Machtverlust nach 21 Jahren ist, zeigten die blassen Gesichter einiger SPD-Politiker. Ein Abgeordneter rieb sich sogar die Augen.

Schräg gegenüber freute sich die FDP. Sie darf nach 38 Jahren wieder mitregieren und stellt mit Fraktionschef Wolfgang Kubicki derzeit den politischen Leitwolf der schwarz-gelben Regierung. So war es denn auch Kubicki, der Carstensen als Erster zur Wahl gratulierte. CDU-Fraktionschef Christian von Boetticher blieb trotz Sprints nur zweiter Sieger, räumte seine Niederlage schmunzelnd ein. "Kubicki war einfach schneller."

Politisch blieb Schwarz-Gelb umstritten. "Ein Aufbruch ist nicht zu spüren", sagte DGB-Nord-Chef Peter Deutschland dem Abendblatt am Rande der Landtagssitzung. Der Gewerkschaftsboss begründete seine Kritik auch damit, dass sich im Koalitionsvertrag kaum ein Wort zur Kooperation mit Hamburg findet. "Das ist ein Armutszeugnis." Die Unternehmensverbände lobten "positive Ansätze" bei Schwarz-Gelb, vermissten aber ebenfalls "ein klares Bekenntnis zur norddeutschen Zusammenarbeit".