Das Kieler Amt fördert eine Kneipe nur für obdachlose Alkoholiker und holt sie so von der Straße. Andere Städte wollen dieser Idee folgen.

Manfred Wagner ist ein Mann mit fester, nordischer Stimme, Leiter des Kieler Amts für Wohnen und Grundsicherung, und er wundert sich über den großen Erfolg einer Idee, die in seinem Amt geboren wurde: der "Trinkraum" am Rande der Innenstadt, an der Schaßstraße 4, hat seit 2003 so gut eingeschlagen, dass er darüber Vorträge in anderen Städten hält und Dutzende Medien, darunter das "Times Magazine", darüber berichten wollen.

"Eine Trinkerszene auf der Straße gibt es dort nicht mehr. Es ist eine absolute Win-win-Situation, über die alle froh sind", sagt Wagner. Obdachlose Alkoholiker nehmen das Angebot an, Geschäftsleute sind froh, dass diese Menschen nicht mehr auf der Straße lagern. Im Stadtteil Gaarden wird das Amt bald einen zweiten Trinkraum eröffnen. Andere Städte wollen dem Modell folgen. Der Bezirk Hamburg-Mitte hat gestern Abend beschlossen, ebenfalls Trinkräume auf den Weg zu bringen.

Probleme mit Saufgelagen haben fast alle deutschen Großstädte, denn diese Menschen versammeln sich an zentralen Plätzen, lagern dort, stören Anwohner, Passanten und Geschäfte durch "lautstarkes und oft nicht kontrollierbares Verhalten", wie es in der Kieler Beschlussvorlage von 2003 heißt. Ein Problem, das auch zum Himmel stinkt, denn der öffentliche Raum wird als Toilette benutzt. Eine rechtliche Handhabe mit Alkohol- und Platzverboten oder mit der Ahndung von Verstößen gegen das Wegerecht haben die Behörden kaum, oder es wirkt nicht dauerhaft.

Offensichtlich haben die Kieler ein besonders gutes Händchen im Umgang mit einer Situation, die "Ordnungsrecht und Sozialpädagogik beim massierten Auftreten der Trinkerszene nicht lösen können", wie die "Kieler Nachrichten" erkannt haben. Die üblichen Maßnahmen wie "Bänke wegnehmen oder Polizeikontrollen" haben nichts genützt, sagt Manfred Wagner.

Da kam Abteilungsleiter Christoph Schneider, der sich in Kiel um Obdachlose kümmert, auf die Idee, das Café "Zum Sofa" diesen Menschen anzubieten. "Wir haben Wohnzimmeratmosphäre geschaffen", beschreibt Wagner die Trinkerstube, "auch wenn diese Menschen gern ihre Lagerorte unter freiem Himmel Wohnzimmer nennen."

Der "Trinkraum" in Kiel ist 80 Quadratmeter groß, heißt Zum Sofa und liegt in einem Gebäude, das vom Verein Hempels genutzt wird. Der Verein ähnelt dem Hamburger Hinz&Kunzt und gibt auch eine Straßenzeitung heraus. Montags bis freitags gibt es nicht alkoholische Getränke zum Selbstkostenpreis. Schnaps ist verboten, und auch illegale Drogen, Gewalt und Waffen. Die Gäste dürfen Bier und Wein mitbringen. Und die Regie liegt bei ihnen. Zwei aus der Trinkerszene stehen hinter dem Tresen, haben den Laden im Griff. 30 bis 60 Gäste nutzen tagsüber die Gaststätte und "disziplinieren sich gegenseitig", wie das Amt feststellt. "Ein ganz entscheidender Punkt ist, dass wir sagten: Ihr werdet nicht von Streetworkern oder Sozialarbeitern verfolgt. Dort könnt ihr in Ruhe trinken und euch unterhalten", sagte Manfred Wagner.

Toiletten stehen zur Verfügung, und im ersten Stock ist eine Schuldner- und Suchtberatung. Einmal wöchentlich wird eine ärztliche Versorgung geboten; es gibt Duschen und eine Waschmaschine. Die Politik beschloss damals einen halbjährigen Versuch. "Was wir nicht erwartet haben, trat ein: Nicht nur die örtlichen Trinker, sondern auch die aus der Fußgängerzone haben den Raum angenommen, und seitdem haben wir in der Innenstadt keine Szene mehr", sagt Manfred Wagner. Die Stadt zahlt 36 000 Euro jährlich an reinen Personalkosten, weil das Gebäude von der Wohnungslosenhilfe gemietet ist.

Kiel wird in den kommenden Wochen im Arbeiter-Stadtteil Gaarden einen zweiten Trinkraum in einer ehemaligen Eckkneipe eröffnen. Manfred Wagner: "Es gibt eine große Szene am Vinetaplatz. Dort müssen wir alles neu aufbauen und kalkulieren mit Kosten von jährlich 100 000 Euro."

Im Kieler Stadtteil Gaarden hatte das Amt sogar vorher eine Umfrage bei den Beteiligten der Szene gemacht, und alle stimmten zu. "Weitere Antworten waren interessant. Als Grund nannten alle: Ich bin sonst einsam, ich hab nichts anderes. Hier treffe ich Menschen, die mich nicht schräg angucken", sagt der Amtsleiter. Und er gibt dann zu: "Wissen Sie, die haben auch eine Geschichte und Bürgerrechte. Der Trinkraum bringt eine gewisse Struktur, die sie auf der Straße nicht finden." Solche Töne hören die Menschen auf der Straße gern.