Am Montag beginnt am Stader Landgericht der Prozess gegen den “Maskenmann“ Martin N. Die Eltern der Opfer wollen ihm ins Gesicht sehen.

Hamburg/Bremen/Stade. Fast 20 Jahre haben die Eheleute J. aus Tangstedt auf diesen Moment warten müssen. Fast 20 Jahre ist es her, dass ein maskierter Mann ihren Sohn Stefan, damals 13, missbrauchte und tötete. Gemeinsam mit den Eltern von Dennis R., damals acht, und Dennis K., damals neun, die der lange unbekannte Täter auf ähnlich kaltblütige Weise tötete, stehen sie am kommenden Montag als Nebenkläger im größten Sitzungssaal des Stader Landgerichtes dem Mörder ihres Kindes gegenüber.

Endlich. Anders als bei seinen Taten wird Martin N. , der 40 Jahre alte Pädagoge aus Wilstorf, keine Maske tragen. Diesmal wird er es sein, der den Blicken schutzlos ausgeliefert ist. Gerechtigkeit werden die Eltern sich kaum erhoffen. Sie erwarten Antworten. Auf Fragen, die sie seit den Taten nicht mehr loslassen. Hinter sich wissen sie die Angehörigen von 40 weiteren Jungen, die der Serientäter im Laufe der Jahre missbraucht haben soll. Martin N. hat ein umfassendes Geständnis abgelegt. Verhandelt wird demnach gegen einen der schlimmsten Kinderschänder, den es in der deutschen Kriminalgeschichte je gegeben hat, gegen einen Mann, dessen Taten einem Albtraum entnommen zu sein scheinen.

Die Festnahme war eine Sekundensache und wollte so gar nicht zur langen Vorgeschichte passen: Am frühen Morgen des 13. April 2011, einem Mittwoch, wird Martin N. an der Bushaltestelle schräg gegenüber seiner Etagenwohnung in der Jägerstraße vor den Augen einiger bereits wacher Nachbarn in einen Streifenwagen gezerrt und weggefahren. Schon wenige Minuten nach der Festnahme muss er sich aus dem geöffneten Seitenfenster übergeben. Ihm ist schlecht - wohl auch, weil er ahnt, was jetzt auf ihn zukommt. Unter Tränen, so heißt es in Vernehmungsprotokollen, geschüttelt von Weinkrämpfen und Selbstmitleid, gesteht er bereits einen Tag nach der Festnahme alles, was er "angestellt habe": Dass er Stefan J., Dennis R. und Dennis K. aus Internaten und Schullandheimen verschleppt, zum Teil missbraucht, getötet und entsorgt habe. Dass er unter anderem in die Jugendlager Selker Noor und Wulsbüttel eingedrungen war und Jungen aus ihren Betten holte. Dass er vor allem im Bremer Stadtteil Horn-Lehe in die Kinderzimmer schlafender Jungen ging und sie dort missbrauchte - während die Eltern nebenan ahnungslos schliefen. Dass er bei all diesen Taten eine schwarze Sturmhaube trug, die ihm, der seit zehn Jahren als Serientäter gesucht wurde, den Namen "Maskenmann" eingebracht habe.

Jürgen Menzel und Martin Erftenbeck, die Chefs der Soko Dennis, sowie der Profiler Alexander Horn atmeten auf. Horn hatte anhand der Tatbegehungen vor der Festnahme des Wilstorfers vermutet, bei dem Täter würde es sich um einen ganz normalen Mann handeln, der vermutlich alleine lebt und Kontakt zu Kindern hat. Vor ihnen saß der Mann, den sie seit Jahren gejagt und bis in kleinste Details durchleuchtet hatten, ohne ihn bereits zu kennen. Martin N., aufgewachsen ohne Vater und mit einem Bruder in Bremen, war ein unauffälliger Schüler, ein unauffälliger Lehramtsstudent der Mathematik und Physik. Er jobbte als Taxifahrer, hatte kaum soziale Kontakte. Der 1,96 Meter große, schlaksige Bursche mit dem jungenhaften Lächeln war so unauffällig, dass das Bremer Jugendamt ihm sogar einen Jungen zur Pflegschaft anvertraute. Das war im Jahr 1996. Martin N. hatte bereits zwei Jungen getötet und zahlreiche Missbrauchstaten begangen.

Erst im Jahr 2001, nach dem Mord an Dennis K. in Wulsbüttel und somit dem dritten Tötungsdelikt nach gleichem Muster, konstatiert die Polizei in Verden, dass es sich um einen Serientäter handeln müsse. Ein Umstand, der unter anderem dem Vater des ersten Opfers, Ulrich J., ärgert. "Es bleiben Zweifel. Ich brauche jetzt einfach mehr Einzelheiten über den Täter und die Ermittlungen", sagte er dem Abendblatt. Opferanwalt Johannes Giebeler wird noch deutlicher. Ein Zusammenhang sei schon nach den ersten beiden Morden zwingend zu erkennen gewesen: "Beide Leichen waren im Sand vergraben, beide waren gefesselt und unbekleidet, beide wurden nachts aus einer geschützten Einrichtung geholt. Da kann man nicht sagen: Das ist reiner Zufall." Da müsse man kein Profiler sein, um einen Zusammenhang zu erkennen, so Giebeler. "Mit dem Wissen von heute ist alles klar", sagt hingegen Soko-Chef Menzel. "In den 90er-Jahren lag die Verbindung zwischen den Taten allerdings noch nicht auf der Hand."

Mehr als 9000 Spuren verfolgte die Soko Dennis, bis der entscheidende Hinweis endlich eintrudelte. Am 10. Februar 2011 war die Soko mit einem neuen Hinweis an die Öffentlichkeit gegangen. Laut Soko-Chef Menzel hatte sich ein Jogger gemeldet, der sich zu erinnern glaubte, an einem der Tatorte einen Mann in einem Opel Omega Caravan sitzen gesehen zu haben. Auf dem Rücksitz habe ein merkwürdíg verängstigt aussehendes Kind gekauert. Die Soko startete eine Medienoffensive. Und doch verlor sich die Spur im Sande. Ein Nebensatz war es schließlich, der die Erinnerung in einem der Opfer des Kinderschänders wiederbelebte. Es könne sich um einen absolut harmlos wirkenden Mann handeln, der vielleicht auch beruflich mit Jugendeinrichtungen zu tun haben könne, sagte Profiler Horn in die Kameras. Ein Bremer, der im Jahr 1995 in seinem Kinderzimmer missbraucht worden war, erinnert sich nun plötzlich daran, dass er wenige Wochen vor der Tat in einem Ferienfreizeitheim von einem der dortigen Betreuer nach seiner Wohnsituation gefragt worden sei. Der Mann hatte sich von ihm eine Skizze der elterlichen Wohnung anfertigen lassen und wissen wollen, wann wer zu Hause sei. Die Kripo ermittelte, dass Martin N. zur entsprechenden Zeit in jenem Heim Betreuer war. Der Rest war Formsache, denn der inzwischen 40-Jährige geriet schon einmal ins Visier der Ermittler.

2004 war ein Verfahren gegen den zwischenzeitlich in den Harburger Stadtteil Wilstorf gezogenen N. wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern gegen eine Geldbuße eingestellt worden. 2007 war N. sogar bei einer Rasterfahndung der Soko Dennis vernommen worden. Die Ermittler glaubten seinen Aussagen, mit den fraglichen Taten nichts zu tun zu haben. Die Abgabe einer DNA-Probe hatte er abgelehnt.

In der Wohnung des Täters an der Jägerstraße fanden Ermittler nach der Festnahme des Jugendbetreuers Spielzeug, Fantasiefiguren und Videofilme. Nachbarn berichteten, Martin N. habe oft Besuch von Jungen gehabt. Seit seinem Umzug nach Hamburg hatte er in einer Wohngruppe für Jugendliche in Harburg gearbeitet. Dort, so berichtete eine Ex-Bewohnerin dem Abendblatt, sei er mehrfach aufgefallen, weil er die Jungs zu sich nach Hause einlud. Von Missbrauchstaten aus dieser Zeit ist nichts bekannt. Er habe seinen Trieb mit Kinderpornos in den Griff gekriegt, sagte Martin N. bei einer der stundenlangen Vernehmungen. Ein Satz, den zumindest der Stader Staatsanwalt Thomas Breas ihm nicht glaubt: "Es besteht nach wie vor der Verdacht, dass er weitere Taten begangen hat. Es ist aber fraglich, ob wir ihm das noch nachweisen können." Die weiteren Taten, das sind die Morde an dem elfjährigen Nicky Verstappen in den Niederlanden und an Jonathan Coulom in Frankreich. Sie ähneln frappierend den Taten, die der 40-Jährige gestanden hat. "Das hab ich aber nicht gemacht", soll Martin N. in der Vernehmung gesagt haben.

Am Strafmaß wird das kaum etwas ändern. Der in den Fall eingebundene Psychiater Norbert Nedopil aus München ist in seinem Gutachten laut NDR Fernsehen zu dem Schluss gekommen, Martin N. sei nicht vermindert schuldfähig. So stehen 15 Jahre Haft plus Sicherungsverwahrung im Raum. Elf Verhandlungstage sind angesetzt.