Nur wenige Grundschüler in Niedersachsen nutzen die Ganztagsbetreuung. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung sieht Nachholbedarf.

Brietlingen. In Niedersachsen herrscht bei der Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern großer Nachholbedarf. Im Ländervergleich steht das Bundesland auf dem vorletzten Platz. Dies ergab eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zur frühkindlichen Bildung. Danach nutzten Anfang 2010 nur knapp 15 Prozent der Grundschüler ein entsprechendes Angebot. Das sind deutlich weniger als in anderen Bundesländern. In jedem ostdeutschen Bundesland besuchen mehr als 60 Prozent der Grundschüler ein Ganztagsangebot, auch in Berlin liegt der Anteil bei fast 70 Prozent. Hamburg (fast 48 Prozent) und Bremen (knapp 27 Prozent) liegen im Mittelfeld. Das Schlusslicht der Skala bilden Bayern (knapp 16 Prozent), Niedersachsen und Baden-Württemberg (13 Prozent).

Nicht, dass es keine Ganztagsschulen unter den Grundschulen in Niedersachsen gibt. Ihre Zahl liegt aktuell bei 500 von insgesamt 1810 Grundschulen. Dass jedoch der Schein trügt, belegt der kürzlich veröffentlichte "Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme" der Bertelsmann Stiftung.

Kathrin Bock-Famulla, Leiterin des Programms Ländermonitor Frühkindliche Bildung, nennt Gründe: "Niedersachsen orientiert sich noch immer weitgehend an der Minimaldefinition der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 2003. Danach gilt eine Schule bereits dann als Ganztagsschule, wenn an mindestens drei Tagen in der Woche für täglich mindestens sieben Zeitstunden eine Betreuung angeboten wird. Zudem gibt es für die offenen Gangtagsschulen keine gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich der Qualifikation des Personals und der maximalen Gruppenstärke. Qualifiziertes Personal ist jedoch die Voraussetzung, um Kinder individuell fördern zu können und so die Bildungsgerechtigkeit zu verbessern."

Sinn und Zweck der Ganztagsschulen ist es, Kinder in ihrer gesamten Entwicklung besser zu fördern, Bildungsbenachteiligungen auszugleichen und Familien zu entlasten. Davon kann bei der Ganztagsschule "light" nicht die Rede sein. So bezeichnen die Grünen die Schulen, in denen lediglich an einen herkömmlichen Vormittagsunterricht freiwillige Nachmittagsangebote angefügt werden.

Dass Schulen dennoch versuchen, das Beste aus einer spärlich bezuschussten Situation zu machen, zeigt das Beispiele Brietlingen. Finanzielle Unterstützung für die Nachmittagsbetreuung erhält die Schule vom Kultusministerium nicht. Dafür aber unterstützt die Samtgemeinde Scharnebeck die Schülerbetreuung mit 5000 Euro jährlich. "Das Kultusministerium fördert den flächendeckenden Ausbau von Ganztagsschulen in erheblichem Umfang und wendet für die schulischen Ganztagsangebote jährlich einen Betrag von mehr als 86 Millionen auf", sagt Ministeriumssprecherin Corinna Fischer.

+++ Eltern fordern bessere Betreuung am Nachmittag +++

+++ Die Quadratur des Kreises +++

Das Geld teilen sich 1300 Ganztagsschulen im Land, die Grundschule Brietlingen geht leer aus. Das System der Nachmittagsbetreuung in Grundschulen ruht auf den Schultern von ehrenamtlich arbeitenden Eltern und zweifellos verdienstvollen Elternfördervereinen, die das nachschulische Programm organisieren und finanzieren. Die 38-jährige Katherina Wehmeyer, Mutter von zwei Kindern, gehört zu diesen Eltern. Ihr Sohn besucht die örtliche Grundschule in Brietlingen. Er gehört zu den 22 Kindern, die an dem vom Förderverein der Schule an vier Wochentagen finanzierten Ganztagsangebots von 13 bis 16 Uhr teilnehmen. Wehmeyer ist Vorsitzende des Fördervereins.

Seit vier Jahren besteht das Angebot. Es ist entstanden aus der vom Förderverein ins Leben gerufenen Nachmittagsbetreuung im Kindergarten. "Die Gruppenstärke in der Nachmittagsbetreuung ist auf 25 Teilnehmer beschränkt. Betreut werden die Schüler von einem qualifizierten Team: einer pädagogischen Mitarbeiterin, die ebenfalls in der Schule arbeitet, einer gelernten Erzieherin sowie zwei Pädagogik-Studentinnen", sagt die in der IT-Branche berufstätige Mutter.

Das Team begleitet die Gruppe aus Erst- bis Viertklässlern auch während der Zeit der Hausaufgaben. "Das aber entbindet die Eltern nicht von der Pflicht, die Hausaufgaben zu kontrollieren", so Katherina Wehmeyer, "das nämlich ist nicht Sache der Nachmittagsbetreuung." Die Hausaufgabenbetreuung in der Schule ist ein staatlich gefördertes Gruppenangebot, kein Nachhilfeunterricht.

Rund 15 Prozent der 175 Grundschüler in Brietlingen nehmen das Ganztagsangebot wahr. Damit trifft die Schule der etwa 3000 Einwohner zählenden Gemeinde den Landesdurchschnitt. "Hinsichtlich der Betreuung ist Niedersachsen ein Schildbürgerland", so Wehmeyer. Bisher war es auf dem Land eher selten, dass Eltern ihre Kinder in die Nachmittagsbetreuung schickten. "Mittlerweile allerdings ändert sich das bei uns. Immer mehr Mütter müssen arbeiten. Außerdem ziehen mehr und mehr Neubürger von außerhalb hierher. Die können zur Betreuung ihrer Kinder weder auf Tanten noch auf Großmütter zurückgreifen", sagt die Vorsitzende des Schul-Fördervereins. Und oftmals reiche auch die Zeit bis 16 Uhr nicht aus: "Deshalb sitzt für die Betreuung meiner Kinder zudem eine Tagesmutter im Boot."

Ganztagsbetreuung findet in Deutschland einerseits in Horten, andererseits in Ganztagsschulen statt. Verbindliche Qualitätsstandards für den Betreuungsumfang und für pädagogisches Fachpersonal gibt es jedoch nur in den Horten. In Niedersachsen - wo 2010 immerhin 20 800 Kinder den Hort besuchten - verfügen sechs Prozent der pädagogischen Fachkräfte im Hort über einen einschlägigen Hochschulabschluss, 75 Prozent haben einen Fachschulabschluss, beispielsweise als Erzieherin. Für die offenen Ganztagsschulen gibt es dagegen keine Vorgaben für die Qualifikation des Personals und die maximale Gruppengröße.

Das sind zentrale Ergebnisse des Länderreports Frühkindliche Bildungssysteme 2011 der Bertelsmann Stiftung. "Wir brauchen in Deutschland einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Ganztagsschule", forderte Jörg Dräger, für Bildung zuständiges Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung. "Ein verlässliches Ganztagsangebot verbessert die Bildungschancen der Kinder und für die Eltern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf."

"Dass Niedersachsen bei den schulischen Ganztagangeboten auf dem vorletzten Platz im Ländervergleich liegt, ist blamabel", sagt die schulpolitische Sprecherin der Landtags-Grünen Ina Korter. "Wer außerschulische Ganztagsangebote ohne jegliche Qualitätsanforderung zulässt, nur weil er dafür möglichst wenig bezahlen will, der vernachlässigt den Bildungsauftrag von Ganztagsschulen in unverantwortlicher Weise."

Die Grünen haben bereits ein Konzept "Ganztagsschule mit Qualität" vorgelegt. Darin heißt es: "Insbesondere im Primarbereich sind die Kinder überfordert, wenn sie täglich aus einer Vielzahl von Angeboten, die von verschiedenen Personen durchgeführt werden, auswählen sollen. Sie benötigen verlässliche, pädagogisch qualifizierte Bezugspersonen. Es ist erforderlich, eine personelle und pädagogische Kontinuität zu gewährleisten. Die Anforderungen an die Personalausstattung und die Gruppengröße für die pädagogischen Zusatzangebote im Primarbereich dürfen nicht hinter den Anforderungen für Horte zurückbleiben."