Weihnachen ist das Fest der Lichter und des blinkenden Schmucks. Blinde Menschen haben dazu häufig eine andere Einstellung.

Harburg/Stelle. Es soll alles so sein wie immer, es soll leuchten, glitzern und blinken. Auch wenn sie es nicht sehen kann. Also kramte Jürgen Cullmann die hübsch bestickte Weihnachtsdecke heraus, holte all die Weihnachtsmänner, Engel und Schneemänner hervor und zierte damit Tische und Fensterbänke im Wohnzimmer. Einen Tannenbaum hat er auch schon besorgt und in den Schuppen geschleppt. 1,70 Meter groß ist er. Seine Frau Helene will es so.

Ob der Baum tatsächlich ihre Wunschgröße misst, weiß sie nicht. Ob ihr Mann ihn so schmücken wird, wie sie es selbst all die Jahre zuvor getan hatte, wird sie ebenso wenig erfahren.

Die 75-Jährige ist blind. Sie kann nicht einmal mehr Umrisse erkennen und lebt völlig im Dunkeln. An einem Sonntagmorgen im Juli verabschiedete sich ihre Sehkraft. Ganz plötzlich. Die Buchstaben der Zeitung verschwammen. Starke Kopfschmerzen traten später hinzu. Dann kam es Schlag auf Schlag. Besuch beim Neurologen, Einlieferung ins Altonaer Krankenhaus. "Nachmittags war alles weg. Da war ich ganz im Dunkeln", sagt sie. Während sie erzählt, hält sie überraschenderweise Augenkontakt.

Woher dieser Augeninfarkt herrührt, kann niemand sagen. Jürgen Cullmann spricht von Weichteilrheuma, von einer Entzündung im Körper seiner Frau und dass das Immunsystem sich selbst zerstört habe. Besonders in der Weihnachtszeit fällt es Helene Cullmann schwer, ihre Blindheit zu akzeptieren. "Ich habe immer großen Wert auf das Schmücken und die Kerzen gelegt. Jetzt sehe ich ja nicht, was mein Mann macht."

Der Alltag wird für sie zu einer ständigen Herausforderung. Manchmal geht sie heiter durch den Tag und nimmt ihr Schicksal mit Humor. Wenn sie dann beim Staubwischen mit dem Kopf gegen den Schrank stößt, lacht sie das einfach weg. Zum Teil aber hat die Angst sie gefangen genommen. Angst, Kartoffeln zu schälen. Angst, die Waschmaschine zu bedienen. Angst, die Treppe hinunter zu gehen. In dieser Unsicherheit ist ihr Mann einziger Halt. Als sie sich noch nicht traute, nachts allein die Treppe zum Bad zu nehmen, stand er mit auf und führte sie. Er kocht, macht die Wäsche, den Garten. Wenn sie gemeinsam das Haus verlassen, bindet er ihr die Schuhe zu und hält ihre Hand. "Was habe ich verbrochen, dass ich nicht mehr sehen darf", fragt sie.

Ihr 74-jähriger Mann musste sich sehr umstellen. Bevor Helene Cullmann erblindete, gab es bei dem Ehepaar eine für die 70-plus-Generation typische Rollenverteilung: Er kümmerte sich um das Grobe, etwa Reparaturen rund ums Haus. Sie war für den Haushalt und den Garten verantwortlich. "Jetzt muss ich immer ran, egal was", sagt er.

Und dann noch dieser Argwohn, der sich manchmal wie ein Schatten auf ihre Beziehung legt. "Ja, seitdem ich nichts mehr sehe, bin ich manchmal misstrauisch", räumt Helene Cullmann ein und muss ein bisschen lachen. "Aber wenn mein Mann mir erzählt, dass der Weihnachtsbaum hübsch aussieht, muss ich es ja wohl glauben."

Er versucht alles so herzurichten, wie sie es tun würde, wenn sie noch sehen könnte. Also wird er rote Kugeln an den Weihnachtsbaum hängen und elektrische Kerzen an die Zweige stecken. Sobald Helene Cullmann das Wohnzimmer zu den Weihnachtstagen betreten wird, wird sie das Kerzenlicht mit der Fernbedienung anknipsen. Es soll alles so sein wie immer.

Für die 84-jährige Christel Borck aus Stelle hingegen ist Weihnachten ein Tag wie jeder andere. Kein Schmuck, keine Kerzen, kein Baum. "Weihnachten ist ein ganz normaler Tag. Ich glaube an Gott und alles. Aber Baum? Nein", sagt sie und winkt ab. Es schwingt etwas Stolz und Starrsinn in ihrer Stimme. Denn sie müsste fragen. Sie müsste ihre Enkelin oder andere Menschen um Hilfe bitten, den Karton mit dem Plastikbaum, den Weihnachtskugeln, mit all den hübschen selbst gehäkelten Vögeln und Sternen nach oben zu tragen. Sie selbst kann die Treppen nicht mehr bewältigen. "Und immer betteln mag ich auch nicht", sagt sie.

Vor fünf Jahren verlor die ehemalige Köchin, die für die Deutsche Bahn gearbeitet hatte, ihr rechtes Auge infolge eines Glaukoms (grünen Stars). "Es war geplatzt und weg. Der Arzt sagte nur, es ist vorbei", sagt Christel Borck. Jetzt hat sie ein Glasauge. Das andere Auge leidet unter feuchter Makuladegeneration. Ihre Sehkraft geht gegen null. Sie kann nicht einmal sagen, ob das Licht brennt oder nicht.

Ihre Enkelin Nicole, 38, wohnt zwar im Obergeschoss, ist aber in der Altenpflege beschäftigt und deshalb tagsüber meistens unterwegs. Weil sie sich allein zurechtfinden muss, bekommt Ordnung in ihrem Haus eine ganz andere Bedeutung. Alle Sachen haben ihren Platz. Das Nachthemd hängt im Bad. Der Toilettenpapier-Vorrat liegt in der Badewanne. Der Putzlappen baumelt in der Dusche. "Wenn ich etwas verlege, dann ist es vorbei." Deshalb weist sie jetzt auch die Pflegerin Kathrin Wiedemann, 30, vom Pflegedienst Sammet in Stelle genau an, wo der Behindertenausweis und ihre Durchblutungsanregende Emulsion verwahrt werden soll. Hermann Wiebe, Gruppenleiter der Regionalgruppe Winsen vom Blinden -und Sehbehindertenverbands Nord-Ost Niedersachsen aus Winsen-Hoopte, der sie regelmäßig besucht und ihr heute eine neue sprechende Uhr mitgebracht hat, bekommt Order, wohin er die Uhr legen soll.

Wenn sie von Menschen spricht, die sie nicht mag, sagt sie "Ziege", "hundsgemeiner Kerl" oder "rafft es nicht". Sie hat ihre eigenen Weisheiten: "Ich mache wie es kommt." In all ihrem Habitus schwingt ein "Trotzdem" mit. Trotz ihres Alters, des Herzschrittmachers, des Glasauges und der schmerzenden Beine stopft sie ihre Socken. Sie putzt. Sie kocht. Sie bügelt. Sie näht ihre Hosen um, wäscht ihre Wäsche und legt sie selbst in den Schrank.

Im vergangenen Jahr war sie sogar bei der Demonstration gegen die Kürzung des Blindengeldes in Kiel dabei. Im Sommer kriecht sie auf allen vieren in ihrem Garten herum, schrubbt Moos von den Pflastersteinen und reißt das Unkraut aus dem Rasen. "Ich muss in Bewegung bleiben. Solange ich es kann, mache ich die Sachen noch. Man muss sich quälen", sagt sie, knetet ihre Hände und lacht ihr herzhaftes, lautes Lachen.

Aber sie kennt auch ihre Grenzen. Rasenmäher, Feuerzeuge und Streichhölzer meidet sie. Deshalb brennen in der Weihnachtszeit auch keine Kerzen in ihrem Haus. "Ich habe Angst vor Feuer und kein Gefühl dafür, wann die Kerzen niedergebrannt sind."

Weihnachten feiert sie zusammen mit ihrer Enkelin. Die Ente liegt schon im Kühlschrank. Christel Borck wird sie selbst zubereiten.