Lüneburger Trommlertruppe reist zum “Friesen-Woodstock“ auf die Insel

Deutsch Evern/ Wangerooge. Abends, um kurz nach acht Uhr, ruft Jörg, 37, aus dem Keller: "Klaus, kannst Du mal die blauen Tonnen zählen?" Zwölf müssen es sein, keine weniger. Das bestätigt Klaus, 60, nach einem Blick in den Pferdeanhänger, der schon lange keine Pferde mehr transportiert. Stattdessen stapeln sich dort jetzt die Fässer und Tonnen der Lüneburger Schrotttrommler. Die jetzt für ihren Auftritt beim "Friesen-Woodstock" auf der Insel Wangerooge packen.

Eine halbe Stunde später ist der Anhänger zu vier Fünfteln gefüllt. "Das kann noch nicht alles sein", denkt Jörg laut, runzelt die Stirn. Was an diesem Abend im Keller bleibt, kann niemand noch mal eben holen. Was fehlt, fehlt. Und trotz des übrig gebliebenen Platzes im Anhänger scheint tatsächlich alles drin zu sein: sieben Ölfässer, ein Eimer Sticks, zwei Abflussrohre, sechs Toilettensitze, zwei Wasserkanister, eine Bratpfanne, zwei Topfdeckel, zwei mit Reis gefüllte Papprohre - und eben exakt zwölf blaue Tonnen.

Es ist das dritte Mal, dass der Lüneburger Trommlertrupp für einen Auftritt auf die Insel fährt. Denn auch das kleine Eiland im Nationalpark Wattenmeer besitzt eine Trommelgruppe: die "Wangoo Diptams", benannt nach der afrikanischen Pflanze, die bei starker Sonneneinstrahlung Feuer fängt.

Und gegründet wurde von einer Hamburgerin, die seit 17 Jahren auf Wangerooge lebt: Ihna (mit h!), 47. Wegen einer starken Bronchitis ihres Kindes ist sie einst von der Kollaustraße auf die Geburtsinsel ihres Vaters gezogen. Und als sie vor vier Jahren einen Bericht im "Jeverschen Wochenblatt" über einen Auftritt der Schrotttrommler in der Bierbrauerstadt las, engagierte sie erst Trommel-Lehrer Jörg aus Deutsch Evern für einen Workshop - und zu ihrem ersten "Friesen-Woodstock" holte sie dann den gesamten Trupp auf ihre Insel.

Dort sind die Lüneburger gerade wieder gelandet. Nach der ersten Pizza und der dritten Cola, geht Jörg mit müden Augen den gepflasterten Siedlerweg entlang. Um Mitternacht war er mit Felix, Jana, Annika und dem Fässer-Anhänger in Deutsch Evern gen Harlesiel gestartet. "Um vier Uhr waren wir da", erzählt Jörg. Die Restnacht verbrachten sie zu viert im Volvo-Kombi. Um gleich die ersten Fähren auf die Insel um 9.30 Uhr zu erwischen, eine Fähre für Menschen, eine für Fracht. Per Gabelstapler wurde der Anhänger aufs Schiff gehievt, denn Autos sind auf Wangerooge verboten.

Vor dem Bahnhof stehen Handwagen anstelle von Taxis, die Straßen sind gepflastert statt geteert, und Hektik wird verächtet. "Gott schuf die Zeit, von Eile hat er nichts gesagt", haben die Wangerooger an den Fähranleger geschrieben. Und die Begrüßung ihrer Gäste lassen die Insulaner keine hohle Phrase bleiben. Sie leben sie, sichtbar.

Der Gong, der am Wangerooger Gleis die Durchsagen ankündigt, klingt jedes Mal ein bisschen anders. Denn Horst, 60, und seine Kollegen erzeugen ihn selbst: Indem sie - wahlweise mit einem Bleistift oder einem Kugelschreiber - auf den blechernen Schirm ihrer Schreibtischlame schlagen und vorher das Mikro anschalten. "Keine Ahnung, wo dat herkommt", sagt Ur-Insulaner Horst. "Dat war schon immer so."

Am Gleis empfingen Sabine, 50, und Magot (ohne r !), 42, die Lüneburger Vorhut. "Ein herzliches moin moin, Ihr Lieben", steht auf dem Transparent, das sie in die Höhe halten. Sabine hat es gemalt. Sie verleiht es auch anderen Insulanern, die Freunde oder Verwandte vom Zug abholen - gegen eine Spende an den Elternverein.

Ein paar Straßen weiter trifft Jörg auf Detlef, den Chef-Logistiker der Insel. "Wir haben Euren Anhänger direkt vom Anleger per Elektromobil ins Dorf gezogen", erzählt der. "Voriges Jahr haben wir die Karre erst von der Fähre auf den Zug gehoben und von dort wieder runter - so eine Aktion wollten wir uns nicht noch mal antun." Denn wer auf Wangerooge ankommt, hat sein Ziel noch nicht erreicht: Der Ort liegt drei Kilometer vom Fähranleger entfernt, ein Zug transportiert Gäste und Gepäck das letzte Stück.

Die "Wangoo Diptams" sind die einzigen Trommler auf einer ostfriesischen Insel, vielleicht sogar auf einer deutschen Insel überhaupt. Das wissen sie aber nicht genau. Während Jörg und die anderen ein wenig Schlaf nachholen, planen die Frauen den nächsten Tag: Tausende Gäste sind über das Himmelfahrtswochenende auf die Insel gekommen, bei ihrem Open-Air-Festival erwarten die Organisatorinnen entsprechend viele Besucher. Sie sind aufgeregt, ob auch alles klappt.

"Alles ist genau getaktet", erzählt Trommlerin Sabine. Das Programm ist straff, Zugaben für einzelne Gruppen wird es nicht geben können. Der Bürgermeister, kein Freund des Festivals, verlässt üblicherweise die Insel zum "Friesen-Woodstock" - hinterlässt aber strenge Auflage für die Organisatoren: Die Mittagsruhe von 13 bis 15 Uhr ist auch bei einem Open-Air-Spektakel heilig, die Getränkewagen müssen per Hand auf den Rasen gezerrt werden.

Am nächsten Tag herrscht Ausnahmezustand auf der Insel. Das Wetter ist fantastisch, Hunderte Koffer werden von Brückentags-Nutzern über die Pflastersteine der Fußgängerzone gerollt. Jörg sitzt mit Annika und Jana bei Pommes und gebackenen Scampi in der "Fischbar" und drückt auf die rote Taste seines Handys.

"Die anderen kommen nicht rüber", erzählt er. "An der Fähre Harlesiel wollen die Bahn-Mitarbeiter sie nicht auf die Fähre lassen." Es gibt Probleme mit der Absprache um zurückgelegte Tickets für die Nachhütler, die erst heute anreisen. Es heißt, die Fähre sei voll, die Mucker könnten nicht mit. "Das ist Schikane" schimpft der Chef, "die wussten doch alle Bescheid."

Einen Zug später aber kommt dann der erste Trupp, zwei Züge später der letzte. Und noch ein paar Stunden später stehen auch die zwischendurch vermissten Reisetaschen vor der Jugendherberge. Alle zwölf Schrotttrommler und ein bisschen Anhang sind jetzt da.

Aufbau, Soundcheck, Auftritt. Jetzt geht alles plötzlich ganz schnell, auch auf der "Insel ohne Eile". Nur Horst, der die Trommler mit einem Schlag auf den Schirm seiner Schreibtischlampe vom Bahnhof ankündigt, nimmt sich seine Zeit wie immer. Hunderte Insulaner und Gäste klatschen im Rhythmus, einige kennen die Schrottis schon von ihren Himmelfahrts-Auftritten in den Vorjahren.

Und danach? Passen Ölfässer, Sticks, Abflussrohre, Toilettensitze, Wasserkanister, Bratpfanne, Topfdeckel, Papprohre und zwölf blaue Tonnen natürlich nicht wieder so perfekt in den Pferdeanhänger wie zwei Abende vorher in Deutsch Evern. Doch wenigstens werden die Trommler ihre Instrumente am nächsten Tag nicht gleich wieder ausladen müssen. Denn bis zum nächsten Auftritt dauert es: 330 Kilometer, eine Zug-, eine Fähr- und zwei Autofahrten später werden die Schrotttrommler bei der "Kulturellen Landpartie" in Weitsche erwartet.