44 Prozent aller Schüler werden Opfer von Ausgrenzung. Präventionsbeauftragte sollen mit Projekten gegensteuern

Lüneburg. Die Schule ist nicht der Tatort, an dem sich zunehmend mehr Gewaltverbrechen ereignen. Das stellt Jens Carstens, Beauftragter für Gewaltprävention der Landesschulbehörde Lüneburg, klar. "Für mehr als drei Viertel aller Jugendlichen gehörte Gewalt im vergangenen Jahr nicht zum persönlichen Erfahrungsbereich."

Mit dieser Aussage stützt sich der 46-Jährige auf Untersuchungen des Kriminologen Christian Pfeiffer. Demnach gehe die Bevölkerung irrtümlich von einer stark ansteigenden Kriminalität aus. "Verantwortlich hierfür ist ein Wandel in der Berichterstattung durch die Medien", begründet Pfeiffer das fälschliche Volksempfinden.

Allerdings, so Carstens, würden 44 Prozent aller Schüler Opfer von Hänseleien durch Mitschüler. "Mobbing ist eine zielgerichtete Sache, um eine andere Person aus einer Gruppe auszuschließen", sagt der Präventionsbeauftragte. Diese versuchte Ausgrenzung käme auf ganz verschiedene Weise zum Ausdruck. Insgesamt habe das Problem des Mobbings in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen

Carstens: "Es hat sich vervielfacht, auch durch das Internet. Das macht es leichter. Der Täter braucht nicht mehr aus seiner Deckung herauszukommen, sondern kann anonym handeln." Seit drei Jahren ist Jens Carstens einer von vier Beauftragten für Gewaltprävention in Niedersachsen. Den Worpsweder trägt die Erfahrung als Hauptschullehrer. Hinter ihm liegt eine Ausbildung zum Mediator; außerdem ist er Trainer für unterschiedliche Sozialprogramme und zuständig für insgesamt 800 Schulen.

Auf der Fachtagung zum Thema "Opferschutz - Opferrechte - Opferhilfe", einer Veranstaltung des Runden Tisches gegen Gewalt in der Familie in Stadt und Landkreis Lüneburg, gab er jüngst Einblicke in seine Tätigkeit. Der Schwerpunkt seiner Arbeit konzentriert sich auf die Unterstützung von Schulen in den Qualitätsbereichen Schulkultur sowie Lehren und Lernen. "Im Vordergrund steht die Prävention", so Carstens. Sie führe zu Veränderungen, deren Wirkung jedoch erst nach einer Schulgeneration eintreten würde.

Voraussetzung für einen Erfolg sei vor allem: "Die gesamte Schule muss sich auf den Weg machen. Denn wenn wir etwas bewirken wollen, dann muss es ,top down' gehen - von oben nach unten." Von der Schulleitung über das Kollegium bis hinein in die Klassen müsse achtsamer miteinander umgegangen werden.

Erklärtes Ziel ist es, das Schul- und Klassenklima nachhaltig zu verändern, damit sich das soziale Klima verändert. Auf diesem Weg werden die Schulen von der Landesschulbehörde mit diversen Projekten und Programmen begleitet. So haben sich unter Jens Carstens an 17 Schulen Mobbing-Interventionsteams gegründet und etwa 100 Lehrer eine Ausbildung zu Schulmediatoren wahrgenommen.

Allein elf Schulen profitieren von der Qualifizierungsmaßnahme SoLis 2010, Soziales Lernen im Schulverbund. Dieses Programm wird nicht für einzelne Schulen, sondern für Schulverbände angeboten. So soll sichergestellt werden, dass Schüler in allen Schulen, die sie durchlaufen, auf das gleiche Verständnis von sozialem Lernen, auf gleiche Regeln sowie auf ein einheitliches Konfliktverständnis treffen.

Jens Carstens ist zwar Präventionsbeauftragter, doch gilt für ihn beim Eintreten des Ernstfalls die klare Devise: "Der Lehrer muss bei Mobbing sofort einschreiten." Dem Opfer vermittle dies erst einmal das Gefühl, das ihm jemand hilft und zur Seite steht. Zugleich werde der Täter in die Schranken gewiesen. Wobei es nicht allein Sache der Lehrer sei, Mobbing zu unterbinden. Carstens spielt den Ball auch in Richtung Schüler weiter: "Sozial intakte Gruppen lassen Mobbing nicht zu."

Carstens Statistik für das ablaufende Jahr lässt staunen: Er betreute in 58 Schulen Projekte mit 172 Lehrkräften, leitete eintägige Fortbildungen oder Informationsveranstaltungen für 901 Lehrer von 497 Schulen, beantwortete 261 Anfragen per Mail und darüber hinaus täglich sechs telefonische Anfragen.